Ausstellungsansicht Franz Gertsch: Blow-up, Foto: Holger Kistenmacher

Doppel-Ausstellung in den Hamburger Deichtorhallen
High Noon und Blow Up

Mit zwei bekannten Filmtiteln kommen die neuesten Schauen in der großen Halle der Deichtorhallen gegen Ende des Jahres daher. Während „High Noon“ den Moment bezeichnet, zu dem die Sonne im Zenit steht, es keinen Schatten gibt, alles gleichzeitig der unbarmherzigen Strahlung ausgesetzt ist, die alles direkt ausleuchtet und der man sich nicht entziehen kann, fällt im US-amerikanischen Western „Zwölf Uhr mittags“ von 1952 der entscheidende Schuss. Dagegen wird im Film „Blow Up“ aus dem Jahr 1966 der Mörder erst durch eine außerordentliche Vergrößerung eines Bildes sichtbar.

Genau damit arbeitete der Schweizer Künstler Franz Gertsch (1930 - 2022), der als Pionier des Fotorealismus und als Meister des modernen Holzschnittes galt und dem jetzt eine große Retrospektive gewidmet ist. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts prägte er einen neuen Begriff des Realismus in der Malerei und war seinen amerikanischen Kollegen aus der Sparte der sogenannten Foto-Realisten voraus. Durch seine großformatigen Malereien und Holzschnitte wurde er zum Weltstar, nahm an der Documenta und an der Biennale in Venedig teil und schuf ein neues Kunst-Genre.

Franz Gertsch: Kranenburg, Foto: Holger KistenmacherFranz Gertsch: Kranenburg, Foto: Holger Kistenmacher

Seine überdimensionalen Gemälde, die bis zu 6 Meter Breite erreichten, entstanden meist nach Klein-Bild-Dias, die er von Freunden, Bekannten aus der Kunstszene oder in der Natur aufgenommen hatte. Die Bilder begeistern aber nicht nur durch ihre Größe, sondern besonders durch ihre fotografische Präzision und handwerkliche Perfektion. Besonders die großen Frauen-Porträts begeistern durch die Exaktheit von Hauttönen und Härchen, die in der Realität nicht zu übertreffen sind. Gerade in den 70er Jahren war er mit seinen riesigen Gemälden aus der Musik- und Künstler-Szene weltweit erfolgreich.

Dabei begann die Karriere des im Berner Oberland geborenen Künstlers zunächst mit romantischen Malereien und ab 1965 mit Collagen im Stile der Pop-Art. Erst dann begann er mit den Musikstars wie den Rolling Stones oder Patty Smith, die er in gigantischen Gemälden feierte, wobei die New Yorker Punk-Lady zunächst nicht sehr begeistert war, dass dieser seltsame Fotograf sie bei einem Konzert ablichtete. Sie beschimpfte ihn und warf mit Papier nach ihm bei ihrem Auftritt in einem Club. Gerade dieses Foto nutzte er für sein wunderbares Gemälde. Als sie allerdings später die Ergebnisse der Malkunst des Franz Gertsch sah, war sie ebenfalls begeistert und besuchte den Künstler in seinem Atelier, wie man in einem Video sehen kann.

Franz Gertsch: Medici, Foto: Holger KistenmacherFranz Gertsch: Medici, Foto: Holger Kistenmacher

Mit seinem Gemälde „Medici“, ein Gruppenporträt von 5 langhaarigen Freunden, die sich über einen Bauzaun der Baufirma Medici lehnen, wurde Gertsch zur Documenta 1972 eingeladen, wo sein Stern als begnadeter Pionier des Fotorealismus in der Malerei aufging. Unterstützt wurde er besonders vom Galeristen und Kunsthallen-Leiter aus Luzern, Christoph Ammann, der ebenfalls mit Kunstfreunden auf dem Bild „Kranenburg“ dargestellt wurde (1969/70) und der dafür sorgte, dass einer neuer Kunstgeneration aus der Schweiz der Weg in die internationale Kunst geebnet wurde.

Neben den großformatigen Malereien und Porträts wie vom femininen Freund Luciano Castelli sind in der Hamburger Ausstellung aber auch Kriegsbilder wie „Huua“ nach einem Film-Still aus „Der Angriff der leichten Brigaden“ oder ein Vietnambild zu sehen. Damit wollte Gertsch auf künstlerische Weise gegen den Vietnam-Krieg protestieren. Dafür fotografierte er das Bild aus einer Zeitung ab und projizierte das Kleinbild-Dia als Vorlage auf ein großes Leinentuch, das ihm als Leinwand diente. So entstand das Schlüsselbild für seine berühmte Blow Up-Technik.

Holzschnitte folgten in der Spätphase seines Lebens, Foto: Holger KistenmacherHolzschnitte folgten in der Spätphase seines Lebens, Foto: Holger Kistenmacher

In den 80er Jahren entwickelte der Künstler dann seine spezielle Holzschnitt-Technik und gab die Malerei für fast 10 Jahre auf. Auch dafür sind diverse Bild-Beispiele in der Deichtorhalle zu sehen. Erst um 1995 begann er wieder zu malen und schuf Meisterwerke wie seine Gräser und Gemälde von „Silvia“. 1999 bekam Franz Gertsch dann eine Einzelausstellung bei der Biennale in Venedig und 2002 sein eigenes Museum in Burgdorf, nahe Bern in der Schweiz. 2022 verstarb der Künstler, der am Ende seines Lebens sich vom Realismus abgewandt hatte, indem er nur noch monochrome Bilder aus blauen Lapislazuli als Farbpigment schuf, im Alter von 92 Jahren im Spital Riggisberg. Die Retrospektive setzt sich überwiegend aus Bildern einer Schau aus dem Kopenhagener Museum Louisiana, sowie Leihgaben aus dem Franz-Gertsch-Museum zusammen.

Demgegenüber ist die Fotoschau „High Noon“, die von Sabine Schnakenberg kuriert wurde, mit insgesamt fast 150 Bildern von den vier Künstler*innen Nan Goldin, David Armstrong, Mark Morrisroe und Philip-Lorca diCorcia direkt aus dem Depot der Sammlung von F.C.Gundlach, dem mittlerweile verstorbenen Gründer des Hauses der Photografie in den Deichtorhallen. Die Exponate entstammen einem Konvolut, das inhaltlich, sowie zeitlich eng zusammenhängt. Ausgehend vom Studium der Fotografie an der School of the Museum of Fine Arts in Boston Ende der 70er und Anfang der 80er Jahre nahmen die vier Fotograf*innen im Umfeld der Regierung Ronald Reagans ihre Arbeit auf.

(c) Nan Goldin(c) Nan Goldin

Goldin, Armstrong und Morrisroe sind miteinander befreundet und konzentrieren sich auf die fotografische Erkundung der Subkultur und der schwulen Boheme in Boston und New York, deren fester Bestandteil sie sind. Nan Goldin macht Fotos von Freunden und Opfern der Aidsjahre, der schwulen und queeren Community und von Drogenopfern. Sie wurde gleichzeitig selbst Suchtabhängige und Aktivistin, die sich für ihre kranken Freunde einsetzte, wie auch gegen die Unternehmer, die die US-amerikanische Opioid-Krise, die Hunderttausende das Leben kostete und immer noch kostet, zu verantworten hatten. Selbst heute noch ist sie sehr streitbar, wie sich bei ihrer Eröffnungsrede in Berlin bei ihrer aktuellen Einzel-Ausstellung in der Galerie der Gegenwart erwies, wo sie konkret Stellung nahm zum „Genozid an den Palästinensern“ im gegenwärtigen Gaza-Krieg durch Israel, was ihr als antisemitisch ausgelegt wurde.

Die befreundeten Fotografen Goldin, Armstrong und Morrisroe prägten durch ihre jeweils persönliche Perspektive und autobiografischen Aspekte eine neue Fotografie, die in die Gegenwart führte, obwohl sie in Auffassung und Stilistik komplett unterschiedliche visuelle Identitäten waren. Ihre revolutionierende Arbeit wirkt bis in die Gegenwart. Gefangen zwischen Instabilität und Fragilität, dabei beständig auf der Suche nach sich selbst, zeigen sie Lust und Schrecken ihrer Peergroup und eröffnen intensive Einblicke in ihre emotionalen und sozialen Welten. Tagebuchartig prallen fotografische Sequenzen von Zuneigung, Freundschaft, Liebe, Sex und Lebendigkeit mit Einsamkeit, Gewalt, Sucht, Aids, Verfall und Tod aufeinander, wie es im Pressetext heißt.

(c) Philip-Lorca diCordia(c) Philip-Lorca diCordia

Auch Mark Morrisroe verstarb Ende der 80er Jahre an Aids. Philip-Lorca diCordia, der sich sehr bewußt von den drei Fotograf*innen distanzierte, begann damit, alltägliche Szenen mit Verwandten und Freunden künstlich nachzustellen, raffiniert auszuleuchten und zu fotografieren und konzipierte auf diese Weise ideale Archetypen. Basis seiner Arbeit ist stets ein genau definierter konzeptueller Ansatz, der bewußt mit dem fotografischen Medium als möglichen Dokument spielte.

F.C.Gundlach war seit den 80er Jahren ein bewußter Sammler von Fotos aus der Subkultur und der Gegenkultur. Er liebte die Outsider-Kunst und die Fotografen der Punkkultur wie Morrisroe. Er fühlte sich hingezogen zur queeren Community, obwohl er seine eigene Homosexualität stets bedeckt hielt. Selbst im hohen Alter verleugnete er „sein Schwulsein“ und stellte seinen Partner verschämt als seinen Chauffeur vor, wie die Kuratorin Schnakenberg im Pressegespräch verriet. Trotzdem ist es ihm natürlich zu verdanken, dass diese großartige Schau der fotografierenden Protagonisten einer besonderen Zeitspanne in Hamburg in den Deichtorhallen zu sehen ist. Fasziniert von Inhalt, Intimität, Expressivität und persönlicher Herangehensweise verband F.C.Gundlach besonders zu Nan Goldin eine persönliche Beziehung und gehörte seit den 1990er Jahren zu einer ihrer besonderen Förderer.

Beide Ausstellungen laufen noch bis zum 4. Mai 2025 in der Halle für Aktuelle Kunst der Deichtorhallen in Hamburg


Fotos: Holger Kistenmacher

Holger Kistenmacher
Holger Kistenmacher
Jahrgang 1956, freischaffender Journalist seit gut 25 Jahren, studierter Realschullehrer, praktizierender psychosozialer Betreuer, ambitionierter Fotograf und Kulturschreiber mit den Fachgebieten: Moderne Gegenwartskunst, Literatur, Musik zwischen Jazz und Rock, Nordische Filme, Moderner Tanz. Weltenbummler und Reisejournalist.

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