Schon der Eingangsbereich des Museumsquartiers St. Annen erscheint dieser Tage in neuem Licht, denn dort hat das internationale Künstler-Kollektiv „Tape Over“ aus Berlin im Rahmen des Lübecker Urban Art Festivals mit Klebeband die Fensterscheiben neu verziert. Bunte Lichtreflexe werden in den Innenraum gezaubert. Passend dazu wurde gerade die neue Ausstellung in der dortigen Kunsthalle eröffnet: „Mehr Licht - Die Befreiung der Natur“ ist ein Gastauftritt des Museums Behnhaus Drägerhaus in der Kunsthalle St. Annen.
Die dortigen Räume werden gerade restauriert, also ist man in die Kunsthalle gezogen, um die wohl „wichtigste Ausstellung des Jahres“ zu präsentieren, wie Tilmann von Stockhausen, der leitende Direktor der Lübecker Museen, bei seinem Grußwort erklärte. Kuratiert von dem bekannten Schriftsteller, Journalisten und Kunsthistoriker Florian Illies und seiner Assistentin Anna Christina Schütz, sowie dem Leiter des Behnhauses, Dr. Alexander Bastek wird über drei Etagen in der Kunsthalle etwas gezeigt, das als große Revolution auf kleinsten Format bezeichnet wird: die Ölstudie in der freien Natur.
Ab 1820 begannen Künstler/innen direkt im Freien in Öl zu malen und das natürliche Sonnenlicht als Inspirationsquelle zu nutzen. Unterteilt ist die Schau, die bereits äußerst erfolgreich im Kunstpalast Düsseldorf zu sehen war, in insgesamt 9 Sektionen. Die Themen sind unter anderem: Das Flüchtige: Die Magie des Augenblicks, Draußen vor der Tür: Heimaterkundung in Öl, Schlechtes Wetter: Der Zauber der Farbe Grau oder Im Land des Lichts: Die italienische Erleuchtung.
Gezeigt werden insgesamt 170 meist kleinformatige Werke aus musealen und privaten europäischen Sammlungen, die zum Teil noch nie öffentlich gezeigt wurden. Allein 33 Exponate in der Ausstellung stammen aus dem Museum Behnhaus Drägerhaus. Gefeiert wird das Flüchtige, die romantische Ölstudie als eigene Kunstform, die im Freien entstandenen Skizzen der Maler des 19. Jahrhunderts in überraschend modernem Licht. Das Außergewöhnliche daran ist, dass die Ölstudien von den Künstler/innen nur für den privaten Gebrauch gemalt wurden. Meist blieben die Studien in den Ateliers, wo sie - wenn überhaupt - andere Künstler zu sehen bekamen. Sie wurden getauscht, blieben meist unsigniert und hatten eigentlich keinen Markt, was bis heute oft eine rein stilistische Zuschreibung erschwert.
Die Ölstudien stellen nicht nur eine formale, sondern auch eine inhaltliche Revolution dar, wie Kurator Florian Illies erklärt. Er selbst ist seit über 30 Jahren an der Thematik dran, als er damals für manchmal nur 30 - 50 Euro einzelne Werke im Stapel erstand. Die Ölstudien in der freien Natur wurden möglich, weil die Mal-Utensilien kleiner wurden und es Ölfarben in Tuben gab. Damit war es machbar, die Natur und ihre Veränderung in kurzer Zeit darzustellen. Meist in der Zeit von 7 Uhr bis 11 Uhr konnten das Sonnenlicht und die entstehenden Schatten im raschen Malvorgang realistisch erarbeitet werden.
Wolkenbilder, Sonnenaufgänge und Untergänge werden ein beliebtes Sujet. Das Alltägliche und Beiläufige wird bildwürdig und der Reiz des Momentanen wird entdeckt. Im Gegensatz zu den Impressionisten geschieht eine Neubewertung des Landschaftsbildes, weg von der Tradition und frei von der Idealisierung der Natur. Im Gegensatz zum Großkünstler Caspar David Friedrich, der die Ölstudien im Freien ablehnte, konnten viele, eher unbekannte Maler das gesteigerte Interesse des Publikums an „realistischen Landschaften“ befriedigen. Wolken, Wind und Wetter wurden skizziert.
Besonders Johann Jakob Frey und Jochen Wilhelm Cordes aus Lübeck schufen Wolkenbilder und Gewitter-Szenen, die der Farbe Grau ihren Zauber zurück gab. Aber auch die Nacht bei Vollmond war zum Beispiel für Carl Blechen ein Sinnbild der Romantik für Melancholie und unerfüllte Sehnsucht und Weltschmerz. Gräser und Bäume wurden in Nahaufnahmen gemalt, um daraus später im Atelier akribisch und möglichst realistisch als Abbild der Natur ausgearbeitet zu werden. Seelentiefe und Empfindsamkeit stellten die Künstler durch die feinfühlige Wiedergabe der Natur dar. Stille und Einkehr fanden sich in der Erhabenheit von Tempelruinen. Draußen in der Natur wurde zur Heimaterkundung.
Fast 200 Jahre nach ihrer Entstehung sind jetzt zum Beispiel zwei Werke von Heinrich Reinhold aus dem Jahre 1823 in der Schau zu sehen. Sie zeigen den Strand von Sorrent mit Wolken, der gleiche Ort zu unterschiedlichen Momenten. Auffällig ist, dass in der Ausstellung nur ein einziges Werk einer Malerin vertreten ist, nämlich „Die Landschaft im Nebel“ von Rosa Bonheur, was zeigt, dass die Frauen in der Kunst des 19. Jahrhundert es besonders schwer hatten. Trotzdem ist es erstaunlich, wie realistisch ihre männlichen Kollegen Naturphänomene ins Bild setzten. So zeigen die beiden Gewitter-Studien von Anton Sminck van Pitloo eine realistische schwarze Wolkenwand, aus der ein Sturzregen fällt.
Gleichzeitig wird dadurch deutlich, wie Naturerfahrung zu Kunst führen kann. Es wird klar, wie die damalige flüchtige Ölstudie der heutigen Schnappschußmentalität mit dem Handy nahekommt. Das belegen auch die hohen Zuschauerzahlen, gerade auch von jüngeren Museumsgängern in Düsseldorf, wie Florian Illies berichten konnte, wo die dortige Ausstellung über 90.000 Besucher zählen konnte.
Als Beleg für diese Aktualität kann das wohl erstaunlichste Werk der Ausstellung, die Arbeit „Terrasse auf der Insel Capri“ vom englischen Neo-Klassizisten Frederic Leighton (1830 -
Gerade an diesem Beispiel sieht das Kuratorenteam die gesamte Ausstellung als eine Einladung an das Kunstpublikum zum Schauen, eine Schärfung des Blicks auf die Natur und seine Phänomene. Es gilt eine nahezu vergessene Gattung, die Ölstudie zu entdecken, deren unzählige Künstler von Oswald Achenbach, Arnold Böcklin, Rosa Bonheur über Johann Wilhelm Cordes, Caspar David Friedrich, Theodore Gudin oder Carl Kummer bis zu Anton Sminck van Pitloo, Theodore Rousseau und Johann Wilhelm Schirmer und vielen anderen in Lübeck zu sehen sind.
Die Ausstellung in der Kunsthalle St.Annen zu Lübeck läuft bis zum 15. Oktober 2023. Es gibt einen wunderbaren Katalog zur Schau. Der im Museum für 29.90 Euro zu erstehen ist.
Fotos: Holger Kistenmacher