Eine wundersame Beziehung
Christian Buddenbrook und Heinz-Joachim Draeger

Die Ausstellung "Ich, Christian Buddenbrook!" ist noch bis zum 28. Mai 2017 im Buddenbrookhaus zu sehen.

Der Blick der Gäste im Buddenbrookhaus bei der Eröffnung der Ausstellung „Ich, Christian Buddenbrook – Skizzen eines Lübecker Kaufmannssohns“ fällt als Erstes auf eine an die Wand projizierte Zeichnung. So können wir uns diese wundersame Beziehung zwischen der Romanfigur Christian Buddenbrook und dem Zeichner Heinz-Joachim Draeger vorstellen: Christian steht wie ein Schatten hinter Draeger, der konzentriert an einer Zeichnung arbeitet, er führt ihm die Hand, legt ihm die andere Hand auf die Schulter. Beschützende Inspiration – ich begleite dich auf deinem Weg. Was du über mich wissen musst, findest du in dem Roman, der neben dir auf dem Tisch liegt. Und hier beginnt das Spiel mit Realität und Fiktion. „Eine fantastische Grenzüberschreitung“ nannte es Birte Lipinski, die Leiterin des Buddenbrookhauses, in ihrer Einführung.

Ein ausgemustertes, liniertes Rechnungsbuch, dessen Papier deutliche Alterungsspuren aufweist, liegt vor uns. Christian Buddenbrook, so die Fiktion, führt das Buch auf seine Weise weiter. „Dieses Skizzenbuch ist nur für mich bestimmt. Es geht niemand was an, was ich für Gedanken hege“, lässt Draeger Christian eingangs schreiben. Nun liegt es vor dem lesenden Betrachter und es geht uns etwas an bis hin zu der letzten Seite und dem Lebensende Christians, des Patienten der Nervenheilanstalt. Als Teil des Nachlasses Buddenbrook – ein Vorname wird ihm nicht mehr gegönnt, er ist nur noch Nummer 143 – überlassen die Angehörigen das Skizzenbuch dem Anstaltsarchiv. Dazwischen spannt sich das Leben aus: Lübeck, die Familie, die Schule, Wünsche und Träume, Travemünde, London und Valparaíso, Verzweiflung und Leid.

Tauchen wir ein in das Leben des „missratenen“ Kaufmannssohns mit der Vorliebe für das Schöne und die Schönen. Seite für Seite, Soll und Haben, jede Seite durch drei senkrechte Linien durchtrennt, wobei die mittlere Linie häufig auch die Mittelachse des Bildes darstellt. Diese Linie trennt aber auch, z. B. Thomas und dessen Geschäftsfreunde auf der einen, Christian und his good friends auf der anderen Seite, den fünfjährigen und den siebenjährigen Hanno, schon in vorweggenommener Ahnung des frühen Todes. Ergreifend die Darstellung eines auf der rechten Seite absterbenden Baumes, dessen linke Hälfte noch in vollem Laub steht: „Unser Stammbaum?“, lässt Draeger Christian fragen. Die Mittellinie trennt Christian und Aline Puvogel, die zwar noch auf einem Sofa sitzen, aber durch die Mittellinie getrennt sind: „Unsere Ehe kaputt.“

Heinz-Joachim Draeger hat sich selbst eine komplexe Aufgabe gestellt: In bewundernswerter Kenntnis der Romanvorlage und der Erzählhaltung Thomas Manns bringt er dem Betrachter Christian und eine Fülle von Figuren nahe, bildet nicht einfach das geschriebene Wort ab, sondern nutzt die Perspektive Christians, um neue Akzente zu setzen. „Die Figur des Christian ist in mich eingefahren. Ich habe das Gefühl, dass wir gemeinsam an diesem Buch gearbeitet haben“, bekennt Draeger im Gespräch mit Birte Lipinski. So tritt Christian uns entgegen: mit den „ziemlich kleinen, runden und tiefliegenden Augen“ und der stark hervorspringenden, gebogenen Nase. Man begleitet ihn durch seine Heimatstadt und das Elternhaus. Mit ihm beginnt und endet das Skizzenbuch. „Unser Haus“ heißt es zu Beginn. „Ich will nach Hause“: die letzte, mit unsicherer Hand gefertigte Skizze des Kranken. „Dominus providebit“ – das hat sich für Christian nicht erfüllt.

Der Gedanke an den Tod begegnet uns in den Skizzen schon früh: Der Totentanz wirbelt leichtfüßig über das Dach der Marienkirche. Satirisch überspitzte Details beim Merkur der Puppenbrücke (man müsste hier eher „überrundet“ sagen) und den Hausgöttern im Landschaftszimmer des Elternhauses (dem Göttervater Zeus wird trotz des Blitzbündels jegliche olympische Größe genommen und Apoll scheint nicht recht zu wissen, was er mit seiner Leier anfangen soll) steht die liebevolle Darstellung von Christians Lieblingsschauspielerin gegenüber. Köstlich „der geliebte Lehrkörper“ des Katharineums mit Zeichenlehrer Marcellus Stengel, an dessen philosophische Unterscheidung von „Linie“ und Strich man erinnert wird. Draeger beherrscht diese Differenz.

Herrlich das Porträt des großen Lübecker Hausdichters Emanuel Geibel: Foto und Zeichnung werden in einer Collage zusammengeführt. Geibel sonnt sich im wahrsten Sinne des Wortes in seinem Ruhm und die Bäume schlagen im Mai tatsächlich aus – der Blick auf das Detail wird geschärft. Bösartiger erscheint die Überzeichnung bei den „liebenswerthen Cousinen“ in all ihrer atemberaubenden Hässlichkeit oder bei den katzbuckelnden Pastoren, die die Konsulin besuchen. Als habe Christian gepresste Blätter, Familienfotos und Eintrittskarten ins Eisenmoorbad oder ins Theater in sein Skizzenbuch geklebt, nutzt Draeger das Mittel der Collage, zunächst wie bei einem Urlaubsalbum. Wie ein Erinnerungsalbum beginnt das Buch mit kritischem wie liebevollem Blick auf Lübecks Straßen und Plätze, auf Kirchen und Kontore.

Mit Christians zunehmendem Leiden und Verfall ändert Draeger Darstellungsart und Farbwahl. Schwankend zwischen „ständiger unbestimmter Sehnsucht“ nach dem Schönen, sprich den dekolletierten Schönen, und der „beständigen unbestimmten Qual“ erscheint uns Christian, die Gesichtshaut grünlich schraffiert. „Der Schmerz“: Ein nur auf den ersten Blick possierlich wirkender Vogel mit scharfem, langem Schnabel hat den Kopf Christians umfangen. Diesem Schmerz kann er nicht entrinnen, die beständige Qual („die Nerven sind zu kurz“) verzerrt sein Gesicht, zwingt ihn in die Knie. Das Bild, das Draeger Christian auf diese Seite kleben lässt, das anatomische Modell eines gehäuteten Écorché, dessen Muskeln freiliegen, erinnert an die Qual des geschundenen Marsyas.

Thomas Mann lässt Christian langsam aus dem Roman entschwinden. „Voraussichtlich würde Christian seine Tage in der Anstalt beschließen“, heißt es knapp auf einer der letzten Seiten. Wie es in dieser Romanfigur ausgesehen haben mag, zeigt Draeger in aller Drastik. Christian wird von drei schwarzen gesichtslosen Männern abgeholt, sein hilfloses dreifaches in Rot geschriebenes „Nein!!!“ ist der letzte vergebliche Versuch des Widerstandes. Das ausgemergelte Gesicht mit den eingefallenen Wangen erinnert an Munchs „Schrei“. Christians neue Umwelt: ihn bedrängende, verhöhnende Fratzen, die nur in seiner Fantasie existieren. Christian in seiner Anstaltskleidung versucht noch einmal ein Selbstporträt. „Ich will hier raus!!!“ ist sein letzter stummer Schrei. Aber ein Entrinnen aus der Anstalt und aus seinen Wahnvorstellungen wird es nicht geben. Die roten senkrechten Linien, die Christian zusätzlich in das alte Rechnungsbuch gezogen hat, sind die Gitterstäbe, hinter denen es für ihn keine Welt mehr gibt. Das Elternhaus, das letzte Bild des Skizzenbuchs, verloren, vergangen.

Die Originale des im Boyens Verlag erschienenen Buches sind noch bis zum 28. Mai 2017 in der Ausstellung im Buddenbrookhaus „Ich, Christian Buddenbrook“ zu sehen. Zugeordnet sind den thematisch geordneten Seiten des Skizzenbuchs Hinweise auf die Passagen des Romans, in denen Christian auftaucht. So kann auch der Museumsbesucher, der die Vernissage mit der Lesung durch Jan Bovensiepen nicht erleben konnte, seine ganz eigene Beziehung zwischen Text und Bild herstellen.

Ich, Christian Buddenbrook!

Bilder: (c) Heinz-Joachim Draeger

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