Foto: Lars Eidinger, (c) Wild Bunch, Peter Hartwig

„Sterben“ von Matthias Glasner
Die Tränen des Lars Eidinger

Zwar hat der hoch gehandelte Film von Regisseur Matthias Glasner bei der Vergabe des Deutschen Filmpreises am vergangenen Wochenende bei neun Nominierungen „nur“ vier Goldene Lolas einkassiert, aber trotzdem war er der Abräumer der Preisverleihung. Leider konnte Glasner den anvisierten Regie- und den Drehbuchpreis nicht entgegennehmen, dafür aber den wichtigsten Preis, nämlich den für den besten Film des Jahres 2023.

Wie er bei der Übergabe der Goldenen Lola betonte, war er völlig durch den Wind. Immerhin gab es ja auch noch die ersten Preise für die beste Hauptdarstellerin (Corinna Harfouch), den besten männlichen Nebendarsteller (Hans-Uwe Bauer) und die beste Filmmusik.

Foto: Corinna Harfouch, (c) Wild Bunch, Peter HartwigFoto: Corinna Harfouch, (c) Wild Bunch, Peter Hartwig

Sein Film „Sterben“ ist ein hochdramatisches 3-Stunden Werk, ein auf eigene biografische Bezüge beruhendes Familiendrama mit einem hochkarätigen Schauspieler-Ensemble. Wie im Nachspann erwähnt, spielt „Hans-Uwe Bauer meinen Vater“, und der gesamte Film sei „Für meine Familie, die Lebenden und die Toten“ gewidmet. Dementsprechend schmerzlich und schonungslos kommt das Großdrama daher.

Lars Eidinger, das Alter Ego des Regisseurs, spielt Tom, einen Dirigenten, in dessen Leben alles drüber und drunter geht. Seine Mutter Lissy (Corinna Harfouch) ist schwer krank und erscheint zu Beginn des Films eingekotet und hilflos am Boden. Der zunehmend demente Vater (Bauer) geistert halb nackt durch die Wohnung und kommt nicht mehr allein zurecht. Tom sollte sie eigentlich besuchen, muss aber gerade bei der Geburt des Babys seiner Ex-Freundin helfen, weil der biologische Vater ein anderer ist, mit dem die Mutter aber auch nichts mehr zu tun haben will.

Foto: Lilith Stangenberg, (c) Wild Bunch, Peter HartwigFoto: Lilith Stangenberg, (c) Wild Bunch, Peter Hartwig

Außerdem steht die Uraufführung der Komposition „Sterben“ seines besten Freundes und Komponisten Bernard (Robert Gwisdek) bevor, die Tom dirigieren soll. Bernard ist seit Jahren schwer depressiv und hadert mit seinem Werk. Dann muss der Vater in ein Pflegeheim, aus dem er immer wieder verwirrt ausbricht, meist nur mit Unterhose bekleidet und barfuss, und die Mutter erleidet einen Schlaganfall. Als der Vater dann verstirbt, kommt Tom zu spät zur Beerdigung, weil sein elektrischer Leihwagen keinen Strom mehr hat. Seine Schwester Ellen (Lilith Stangenberg), die ein starkes Alkoholproblem hat und immer anti gegen alles war, erscheint erst gar nicht. Statt dessen verbringt die Zahnarzthelferin ihren Alltag im Vollrausch in Hamburg und fängt eine Affäre mit dem verheirateten Zahnarzt (Ronald Zehrfeld) an.

Foto: Lilith Stangenberg und Ronald Zehrfeld, (c) Wild Bunch, Peter HartwigFoto: Lilith Stangenberg und Ronald Zehrfeld, (c) Wild Bunch, Peter Hartwig 

Nichts ahnend lädt er sie zum Konzert von Tom in die Philharmonie ein, wo sie das Konzert crashed, indem sie sich in den Nacken ihrer vor ihr sitzenden Zuschauerin erbricht. Vorher hatte die Mutter Tom beim Kaffeetrinken nach der Beerdigung eiskalt erklärt, dass er ja kein Wunschkind war und sie ihn, weil er ein Schreikind war, in ihrer Not, absichtlich auf den Boden fallen ließ. Dieses und weitere Details einer absolut dysfunktionalen Familie werden von dem hervorragendem Schauspieler-Ensemble in einer unglaublichen Gefühlskälte vorgetragen, dass man das Schaudern kriegt. Dann stirbt auch noch die Mutter und sein Freund Bernard nimmt sich in seinem Beisein das Leben in der Badewanne. Aber erst bei der schlussendlichen Uraufführung der Komposition kommen dem Dirigenten die Tränen. Der sonst so kontrollierte und realistische Tausendsassa weint.

Foto: Robert Gwisdek, (c) Wild Bunch, Peter HartwigFoto: Robert Gwisdek, (c) Wild Bunch, Peter Hartwig

Trotz dieser gesamten traurigen, harten und gefühlskalten familiären Gemengelage hat der Film, der in fünf Episoden aus jeweils anderen Perspektiven besteht, auch seine stillen oder humoristischen, gar satirischen Passagen. Allerdings weiss man als Zuschauer oft nicht so genau, lacht man jetzt, weil es so lustig ist oder erträgt man das Grauen nur, indem man darüber lacht.

Ein großartiger Film, der unglaublich authentisch und ehrlich rüber kommt, aber voller Härte, Bitternis in seelische Abgründe schauen lässt. Ein mutiger Film, der mit Recht mit vier Goldenen Lolas geehrt wurde, auch wenn der wunderbare Lars Eidinger einem noch besseren Kollegen den Vortritt lassen musste.



Der Film läuft im FIlmhaus Lübeck: https://www.cinestar.de/kino-luebeck-filmhaus/film/sterben

Holger Kistenmacher
Holger Kistenmacher
Jahrgang 1956, freischaffender Journalist seit gut 25 Jahren, studierter Realschullehrer, praktizierender psychosozialer Betreuer, ambitionierter Fotograf und Kulturschreiber mit den Fachgebieten: Moderne Gegenwartskunst, Literatur, Musik zwischen Jazz und Rock, Nordische Filme, Moderner Tanz. Weltenbummler und Reisejournalist.

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