Foto: (c) Filip van Roe

Internationale Kulturfabrik Kampnagel Hamburg
Sidi Larbi Cherkaoui: „Nomad“

Sieben lange Jahre mussten die Fans des belgisch-marokkanischen Ausnahme-Choreographen Sidi Larbi Cherkaoui warten, um mal wieder eine seiner Arbeiten in Hamburg zu sehen und zu genießen.

Der international gefeierte und mit diversen Preisen ausgezeichnete Star der europäischen Gegenwarts-Tanzszene hatte sich rar gemacht, obwohl er nach sieben Jahren als Ballett-Chef der „Opera Ballet Vlaanderen“, seit 2022 Leiter der Kompanie des „Grand Theatre de Geneve“ sowie weiterhin seine eigene Kompanie für zeitgenössischen Tanz „Eastman“ in Antwerpen verantwortet. Jetzt war es im Rahmen des Nordwind Festivals, das dieses Jahr unter dem Motto „New Allies“, neue Verbündete steht, um sich um die Themen Heimat, Lebensraum und Identität zu kümmern, endlich wieder soweit. Und das lange Warten hat sich gelohnt. Mit „Nomad“ wurde ein Stück auf die große Bühne von Kampnagel geholt, das sich um lebende und unbelebte Wüstengeschöpfe dreht.

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Vor einer riesigen Videowand, welches im unteren Teil eine verdürrte, aufgeplatzte Landschaft zeigt, während die obere Hälfte entweder einen Wolken-verhangenen Himmel, entfernte Berge, prasselnden Regen oder auch einmal eine Atom-Pilz als Video projizierte, schälten sich langsam insgesamt 7 Tänzer und 2 Tänzerinnen aus der Dunkelheit. Untermalt von einer nahöstlich inspirierten Musik, die teilweise auch live von Shak Shakito gesungen wurde, geht es um die Möglichkeiten des Überlebens in einer Menschen-feindlichen Umgebung. Besonders die teils instrumentale Musik zwischen Naher Osten, Arabien, Afrika und selbst traditionellen Gesängen von einer japanischen Inselgruppe sorgen zusammen mit einer sinnlichen Licht-Choreografie für eine besondere Atmosphäre, die von der Multi-Kulti-Tanztruppe der Kompanie Eastman mit Leben gefüllt wird.

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Schnell wird klar, dass unter den Bedingungen einer Wüste, ein Überleben seiner tierischen und menschlichen Bewohner nur durch Zusammenhalt, Freundschaft und Symbiose möglich ist. Die Tänzer*innen wirbeln in Kreisen und Pirouetten über die Bühne, berühren und tragen einander. In ihren weiten roten und schwarzen Hosen und Hemden bilden sie einen wunderbaren Kontrast zu der braungelben Wüstenlandschaft. Im folgenden Duett von zwei Tänzern verknoten und umklammern sich die Figuren fast bis zu einer Einheit. Aufgelöst wird dieses wunderbare Tanzbild von einer fast schon unglaublichen, aus dem HipHop entliehenen rasanten Pirouette, die wirbelnd und immer schneller auf dem Kopf drehend ausgeführt wurde. Erstauntes Raunen und Begeisterung durchflutet das Publikum.

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Es folgen komplexe Gruppen-Szenen aus artistischen Sprüngen, Drehungen, Hebungen und Bodenübungen, die die Bewegungs- und Anpassungsfähigkeit der Wüstenbewohner widerspiegeln sollen. Dann erscheinen drei Tänzer mit langen Stelzen an den Armen und Beinen, die wie Kamele von zwei Tänzerinnen geritten werden. Elegant aber auch unglaublich flexibel in den Drehungen und der Gelenkigkeit beweisen die Tänzer*innen ihre große tänzerische Qualität und Energie. Mal kriechen sie wie Echsen über den heißen Wüstensand, schlängeln sich durch Dünen oder werfen sich den aufkommenden Stürmen entgegen. Derweil schält sich aus einem an nomadische Kleidung erinnernden Stoffberg die singende Gestalt des afrikanischen Sängers Shak Shakito heraus, der mit seinen Klagegesängen das Bühnengeschehen wunderbar untermalt.

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Im letzten Teil der großartigen Tanz-Choreografie entledigen sich die Tänzer*innen ihrer Kleidung und stolzieren scheinbar nackt, aber bekleidet mit fleischfarbener Unterwäsche, die ihre austrainierten Körper betonen, über die Bühne. Dabei zeichnen sie mit flüssigem Lehm Spuren auf dem Bühnenboden und bedecken abschließend ihre Haut mit der alle gleich machenden Farbschicht.

In einer langen Reihe hintereinander zeigen sie gemeinsam eine komplizierte Choreographie aus Händen und Armen, die sich wie ein gewaltiger Wurm bis dicht an die vorderen Zuschauerreihen bewegt. Am Ende liegen sie vor den Zuschauern erschöpft und schwer atmend in einer Reihe, während im Hintergrund der blaue Himmel unbarmherzig die Sonne brennen lässt.

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Insgesamt ein wunderbar stimmiges Stück, getragen von einem musikalischen Kaleidoskop aus orientalisch inspirierter Musik zwischen afrikanischen und japanischen, traditionell gesungenen Liedern der Amani-Inseln und sehr rhythmischer Trommelmusik, die sich dicht an den Bildern der Videowand anpassen. Dazu agiert ein ausgezeichnetes Ensemble aus insgesamt 9 Tänzer*innen, die es durchgehend schaffen, Bilder voller Dynamik, Eleganz und Energie zu erzeugen. Tänzerisches Können und Schönheit von Körpern trifft auf eine choreografische Arbeit, die ein jubelndes Publikum mit Standing Ovation antworten lässt. Ein großer Tanzabend!

Holger Kistenmacher
Holger Kistenmacher
Jahrgang 1956, freischaffender Journalist seit gut 25 Jahren, studierter Realschullehrer, praktizierender psychosozialer Betreuer, ambitionierter Fotograf und Kulturschreiber mit den Fachgebieten: Moderne Gegenwartskunst, Literatur, Musik zwischen Jazz und Rock, Nordische Filme, Moderner Tanz. Weltenbummler und Reisejournalist.

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