Das Publikum im Theatersaal K2 wird sprichwörtlich der Spiegel vorgehalten, Foto: (c) Bernd Uhlig

"Spiegelneuronen" auf Kampnagel
Mitmischen oder sich genussvoll verweigern

Das war die übergeordnete Frage, die sich das Publikum bei dem künstlerischen Experiment am letzten Wochenende auf Kampnagel stellen musste. Mit „Spiegelneuronen“ hatte sich die Berliner Tanzkompanie von Sasha Waltz & Guests zusammen mit dem Regisseur Stefan Kaegi, den man hauptsächlich vom „Rimini Protokoll“ kennt, vorgenommen, das versammelte Publikum in Bewegung zu versetzen.

Dazu wurde den Leuten im Theatersaal K2 sprichwörtlich der Spiegel vorgehalten. Ein großer, über die gesamte Breite der Bühne, wo normalerweise die Action tobt, aufgestellter Spiegel zeigte, als sich der Theatervorhang öffnete, ein erwartungsvolles Auditorium vom Boden bis in die hintersten Ränge. So wurde der Zuschauerraum zu einem gigantischen Selfie der gesamten Tribüne mit Publikum.

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Erwartungsvoll suchten erstmal alle nach sich selbst, wackelten mit den Köpfen, drehten sich erstaunt um, sondierten die Lage, bis erste Mutige anfingen zu winken. Zaghaft langsam kam Bewegung in die Menge. Je nach musikalischer Untermalung, von entspannt sphärisch bis Techno-artig laut wurde sich gewiegt, mit den Armen geschwungen oder zackig die Hände in die Höhe gereckt. Dazu kamen aus den Lautsprechern und übersetzt am oberen Rand des Spiegels allerlei Wissenswertes aus der Gehirnforschung, der Psychologie, der Soziologie oder über kollektive Intelligenz.

Die beiden künstlerischen Leiter dieses theatralischen Experiments, Sasha Waltz und Stefan Kaegi haben sich im Vorfeld der Inszenierung mit verschiedensten Wissenschaftler*innen, wie Christina von Braun, emeritierte Professorin, Kulturwissenschaftlerin und Gendertheoretikerin, John-Dylan Haynes, Professor für Hirnforschung an der Charité, Tim Landgraf, Professor für künstliche und kollektive Intelligenz oder der Wissenschaftsjournalistin und Referentin im Deutschen Ethikrat, Nora Schultz und anderen auseinandergesetzt.

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So hat sich John-Dylan Haynes in seiner Arbeit speziell mit den Spiegelneuronen befasst: „Heute haben die meisten Menschen schon von Spiegelneuronen gehört, sie gehören quasi zu den Popstars des Gehirns. Nach der frühen Pionierarbeit hat sich das Denken jedoch auch weiterentwickelt. Früher dachte man, es gibt nur wenige, ganz spezielle Nervenzellen, die mein soziales Gegenüber spiegeln. Heute weiß man, dass dies ein viel umfangreicherer Vorgang ist. Viele Regionen unseres Gehirns können verschiedene Gefühlsaspekte unserer Mitmenschen spiegeln und mit ihnen in Resonanz treten. Wenn sich zwei Verliebte Menschen gegenseitig anschauen, geraten ihre Gehirne in Resonanz und viele Hirnregionen schwingen sich im Gleichklang aufeinander ein.“

Ähnliches passierte auch im Besucherraum des Theaters. Denn Spiegel haben eine lange Geschichte im Tanz. Sie helfen dabei, Körper zu synchronisieren, als wären sie ein einziger. So gingen alle Beteiligten davon aus, dass der Zuschauerraum wie ein Gehirn funktioniert mit den Sitzplätzen als Synapsen und Schaltstellen, die miteinander ein größeres Netzwerk bilden.

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Allerdings war auch von Beginn an klar, das der Mensch im Theater erstmal ein scheues Wesen ist. So geht es mir zumindest. Ich hasse es, wenn ich bei einer Veranstaltung, egal welcher Art direkt angesprochen werde oder sogar genötigt werde auf die Bühne zu kommen. Also war es hilfreich, dass insgesamt 7 Tänzer und Tänzerinnen der Kompanie versteckt in der Masse im Publikum saßen und einzelne Bewegungen vorgaben, die dann aber sehr eifrig vom Bewegungs-affinen Menschen übernommen wurden. Auch neongelbe Luftballons oder witzige eingespielte Videos taten ihr übriges.

Je länger der Abend wurde und je drängender die Sound-Collage aus den Boxen dröhnte, desto mehr Leute sprangen auf, schwenkten die Arme oder drehten verzückt leichte Pirouetten auf dem Sitz. Die Stimmung war überwiegend ausgelassen, obwohl ich auch beobachten konnte, dass einige Besucher genervt das Weite suchten. Man hat schließlich viel Geld für sein Ticket bezahlt und will dementsprechend unterhalten werden. Einige verweigerten sich einfach, hatten aber trotzdem ihren Spass dabei, zu beobachten, wie sich einzelne zum Affen machten, was ja auch einen gewissen Unterhaltungswert hat. Schlussendlich kamen dann aber fast alle Leute richtig in Bewegung, als die harte Rocknummer „You are so special“ kräftig mitgesungen wurde und einige sogar richtig abrockten.

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Fazit: Ein interessanter Abend, wo nicht die Akteure auf der Bühne die Hauptrolle spielten, sondern das willige Publikum selbst - ein Experiment eben, das für die meisten Besucher funktioniert hat und viele sogar amüsierte. Beim Rausgehen aus der Halle waren zumindest bei den meisten Besucherinnen ein Lächeln oder ein großer Bedarf am Diskutieren zu beobachten.

Holger Kistenmacher
Holger Kistenmacher
Jahrgang 1956, freischaffender Journalist seit gut 25 Jahren, studierter Realschullehrer, praktizierender psychosozialer Betreuer, ambitionierter Fotograf und Kulturschreiber mit den Fachgebieten: Moderne Gegenwartskunst, Literatur, Musik zwischen Jazz und Rock, Nordische Filme, Moderner Tanz. Weltenbummler und Reisejournalist.

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