Bevor ich mir ab Mittwoch 5 Tage lang mit nordischen Filmen ordentlich etwas für die Augen gönne, habe ich mir am Wochenende auf Kampnagel beim Überjazz-Festival noch einmal die Ohren frei blasen lassen. Das Publikum bekam beim vielfältigen und jenseits allem Mainstream angesiedelten Musik-Festival für Jazz und artverwandte Musikrichtungen im Jahr 2024 jede Menge Musik angeboten, wobei für alle etwas dabei war.
So gab es teilweise ungewöhnliche Instrumentierungen, wie die Kombination aus Bratsche und modularem Synthesizer bei Marta Sofia Honer und dem japanischen Elektroniker Jeremiah Chiu oder typisch skandinavischen Jazz-Rock mit orientalischer Zither vom schwedischen Komponisten Sven Wunder, der fünf bärtige Musiker mitgebracht hatte, die seinem Debütalbum „Eastern Flowers“ huldigten. Anatolischer Rock traf auf europäischen Jazz-Funk.
Zuvor war bereits die als „Supergroup“ angekündigte Band Flock in der großen Halle K6 am Start. Hochkarätig besetzt mit Bex Burch, Sarathy Korwar, Tamar Osborn, Danalogue und Al MacSween improvisierte sich die Combo durch ein einstündiges Set, das zwar sehr Rhythmus-orientiert war, aber auf die Dauer ziemlich langweilig und eintönig daher kam.
Weitaus explosiver und mitreißender war die „Spoken-Word-Performance“ von Moor Mother. Die US-amerikanische Musikerin und Aktivistin Camae Ayewa aka Moor Mother zeigte einen sehr gegenwartsrelevanten Auftritt. Dabei orientierte sie sich an ihrem aktuellen Album von 2024 „The Great Bailout“, auf dem sie sich wortgewaltig mit der nicht aufgearbeiteten Kolonialgeschichte Groß Britanniens auseinander setzt. Ihr poetisches Sound-Kunstwerk zeigte wie zeitgemäßer avantgardistischer Jazz, der von Noise und HipHop beeinflusst war und politisch nicht hinter dem Berg hielt, heute zu klingen hat - großartig und wütend!
Gut tanzbar und vom brasilianischen Samba beeinflusst gab es zwei Auftritte von Latino-Musiker*innen, die ganz oben auf der Welle der Musica Populär Brasileira mitsurfen. Zunächst sang die Gitarristin Dora Morelenbaum gemeinsam mit ihrem Gitarrenpartner, wobei auch schon einmal ihre akustische Gitarre als Percussion herhalten musste. Dann überzeugte der mittlerweile in L.A. ansässige Gitarrist Roge und sein Schlagzeuger mit sattem Samba-Funk und brasilianischem Soul - und die K2 tanzte.
Dann wurde es noch einmal richtig wild. Die in Bolivien geborene Sängerin Ibelisse Guardia Ferragutti und ihre 5-köpfige Band legte deftig los mit einem rasanten Stilmix aus Latin-Music, Avant Jazz, Art Punk, Post Rock, Cumbica und Electronica. Und am Ende des langen Freitagabends wurde es dann noch einmal richtig bunt. Die neunköpfige Multikulti-Truppe aus Berlin mit Musiker*innen aus fünf Kontinenten, aber alle mit Wohnsitz in der Bundeshauptstadt: Sonic Intervention hatte sich im KMH aufgebaut. Im Halbkreis musizierten sie um ihren Trancetänzer herum, der mit nacktem Oberkörper und gehörnter Rasta-Matte Ausdruckstanz der rituellen Sorte bot und dabei sogar noch Unterstützung von einem kleinen schwarzen Mädchen bekam, die mit Riesen-Kopfhörern die Bühne enterte, aber eigentlich zu so später Stunde längst ins Bett gehörte. Spiritualität traf beim Auftritt auf funky Beats und HipHop-Sounds.
Der Samstag ging pünktlich um 19 Uhr los mit dem Trompeter und Komponisten Will Miller aus Chicago und seiner Band Reservoir, die allerdings ziemlich altbekannten Funk-Jazz zu bieten hatte, der wenig Platz für Innovation und schräge Klänge bot. Diese hatte dann aber das total schräge Trio The Zenmann aus Berlin zu bieten. Die drei Musiker boten eine Helge-Schneider-Show mit falschen Haaren und seltsamen Kopfbedeckungen. Ihre Musik könnte man als 70er-Jahre-Mischung aus Jahrmarkts- , Weltraum- und Fahrstuhl-Pop bezeichnen. Lustige Cover, die keiner kannte, folgten auf seltsame Disco-Musik der 80er von den Balearen. Das war wohl alles nicht so ganz ernst gemeint, aber trotzdem ganz amüsant und musikalisch sicher nicht so einfach zu spielen.
Etwas später wurde es dann doch noch etwas ernsthafter, als drei Musiker den Soulsänger Eddie Chacon, der mit „Would I lie to you“ vor drei Dekaden einen weltweiten Hit hatte und noch heute mit seiner samtweichen R&B-Stimme überzeugen konnte, unterstützten.
Zum guten Schluss kam dann auch noch mein persönliches Highlight: Kassa Overall. Die vier coolen schwarzen Jungs rund um den sensationellen Drummer und Rapper Kassa Overall brachte die rappelvolle K6 zum Kochen. Ständig wechselten die Musiker zwischen Percussion, Drums, Saxophon und Gesang. HipHop und Dance-Beats gepaart mit unglaublich rasanten Trommel-Einsätzen ließen keinen auf dem Sitzen kleben.
Da konnte selbst der sensationell wunderbare junge Hamburger Trommler Silvan Strauss, der vorher an gleicher Stelle ebenfalls einen Klasse Auftritt rund um den Top-Produzenten Farhot hingelegt hatte, noch etwas lernen. Der afghanisch-stämmige Farhot ist einer der wichtigsten Musik-Produzenten Deutschlands und hatte es sich auf der großen Bühne auf einem Sofa gemütlich gemacht, um seine vier Lieblingsmusiker mit allerlei musikalischen Spielereien, gesanglichen Samples und elektronischen Schnipseln aus der Jazz-Geschichte und dem HipHop zu unterstützen. Heraus kam ein sehr rhythmisch treibendes Set, angetrieben vom rasanten Drummer Silvana Strauss.
Fotos: (c) Holger Kistenmacher