Foto: (c) Anne Van Aerschot

Anne Teresa De Keersmaeker "Exit above - After the tempest"
Euer Fortschritt ist unser Sturm

Sechs lange Jahre mussten ihre Fans warten, um die flämische Ausnahme-Choreografin und Pionierin des zeitgenössischen Tanzes, Anne Teresa De Keersmaeker und ihre großartige Tanz-Truppe „Rosas“ mal wieder auf der großen Bühne von Kampnagel zu sehen. Mit ihrer Inszenierung des Jahres (Tanz aktuell) „Exit above - after the tempest“ war sie jetzt für drei Aufführungen in Hamburg zu Gast.

Orientiert hat sie sich dabei an dem letzten Werk von Shakespeare: Der Sturm, in dem der englische Dramatiker in der Person seines alter ego, Prospero, der als Machthaber alle Fäden in der Hand hält, es wagt, sich zu verabschieden. Zuvor hat Prospero diejenigen auf seiner Insel versammelt, die ihn vormals aus Mailand vertrieben haben. Nun will er sich wieder mit ihnen gemein machen und ihnen verzeihen. „Exit above“ ist eine Regieanweisung von Shakespears „The Tempest“. „Was von Kraft mir bleibt, ist mein, und das ist wenig“, heißt es im Epilog, nachdem der Meister-Magier und Inselherrscher seinen Stab zerbrochen hat. Gleichzeitig verweist das neue Stück von De Keersmaeker aber auch auf die Schönheit und Brüchigkeit menschlicher Existenz in Zeiten von sich auftürmenden Katastrophen wie dem Klimawandel.

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Zu Beginn beschwört der junge Tänzer Solal Mariotte durch Händeklatschen auf dunkler Bühne das Geschehen herauf. Ein Sturm zieht auf, wunderschön durch einen silbrig-weißen Vorhang symbolisiert, den eine Windmaschine förmlich skulptural aufbläht, während der Tänzer in einem einsamen Solo alles gibt, um die Katastrophe aufzuhalten. Man erkennt seine Herkunft aus dem Street- und Breakdance, wenn er sich in sensationellen Moves und Spins nach den Elektrosounds des Gitarristen Carlos Garbin virtuos als Schicksalsfigur abmüht, den Planeten zu retten.

Als sich der Sturm legt, betreten die anderen 11 sehr jungen und diversen Tänzer*innen als Block die Bühne und starren das Publikum minutenlang an. Das erscheint einerseits anklagend, wie auch auffordernd nach dem Motto: „Tut endlich etwas. Wir sind so voller Lust auf das Leben und wollen eine Zukunft haben!“

Dann erfüllen sie etwas, was für die Choreografin De Keersmaeker zu einem Markenzeichen wurde: „Das Gehen ist das neue Tanzen“. Gemeinsam gehen, schreiten, schlenkern sie über die Bühne hin und zurück. Dazu bildet der „Walking Blues“ vom legendären Bluesmusiker Robert Johnson den musikalischen Hintergrund, der live auf der Bühne von der belgischen Singer-Songwriterin Meskerem Mees und dem Gitarristen Garbin vorgetragen wird, während sie sich gemeinsam mit den Tänzern auf der Bühne bewegen.

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Es folgen weitere Adaptionen und Variationen des „Walking Songs“, die untermalen, welche politischen Dimensionen erreicht werden können, wenn sich die Menschen zusammen tun, um gemeinsam zu marschieren. Diese „Walks“ sind minutiös ausgearbeitet und gehen über in kreisende Läufe, federleicht und lässig mit den bekannten Hüftschwüngen aus dem Tanz-Repertoire von Keersmaeker. Entlang der auf dem Boden aufgezeichneten Linien werden die Läufe rasanter, raffinierter und immer komplexer, während die Beatzahl der Musik sich langsam verdoppelt. Dazu entblättern sich die Tänzer und Tänzerinnen immer mehr. Trugen sie am Anfang alle noch Radfahrer-Trikots mit aufgedruckten Sinnsprüchen wie „I cried to dream again“ oder „There is nothing I can do“ oder „I´ll break my stuff“, werden immer mehr Oberkörper entblösst, bis einzig Unterhosen übrig bleiben.

Die Konstellationen im Ensemble werden variabler. Soli, Duette, Trios kristallisieren sich heraus. Es wird gefeixt, gelacht und grimassiert. Mit Pfeifen, Flöten und unmenschlichen Lauten wird ein Biotop herauf beschworen, die das Tierleben auf der Insel imaginiert. Körper genügen, um den Wald zu performen, wenn es überall zirpt und raschelt.

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Auf die Bluesstücke folgen doppelt so schnelle Elektro-Beats, auf die das Rosas-Ensemble tänzerisch hochenergetisch reagiert. Rasante Armkreise gepaart mit den typisch geneigten Körpern nach innen und außen, gefolgt von „Frease-Momenten“, die die Energie aber nur zu sammeln scheinen, um noch intensiver auf das Tempo zu drücken. Drehungen, Sprünge und rasante Richtungswechsel arten in eine allgemeine Party-Tanz-Stimmung aus. Man möchte am liebsten selbst mit auf die Bühne springen, wenn es die Energie und die alten Knochen noch hergeben würden. Dieser letzte Rausch der Choreografie voller Dringlichkeit und Schönheit dient der Gemeinschaft als letzte Flucht, bevor der Stab über allen gebrochen wird. Es bleibt die letzte Frage offen: Wie werden wir angesichts der überbordenden Probleme gehandelt haben, wenn der letzte Sturm abgezogen ist?


Fotos: (c) Anne Van Aerschot


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