Künstlerischer Leiter des Festivals: András Siebold, Foto: Holger Kistenmacher

Kulturfabrik in Hamburg
Eröffnung des Internationalen Sommerfestivals 2024 auf Kampnagel

Erstmals seit 17 Jahren konnte das avantgardistische Sommer-Festival wegen eines Gewitters plus Regengüssen nicht im lauschigen "Avantgarden" eröffnet werden, sondern wanderte mit seinen Eröffnungsansprachen in die stickige Vorhalle der Hamburger Kulturfabrik.

Während die Kampnagel-Intendantin Amelie Deuflhard auf die insgesamt schwierige Weltenlage, die zurückgehende Kulturförderung aufgrund von allgemeinen Finanzproblemen und auf das trotz der Schwierigkeiten prall gefüllte Festivalprogramm einging, sprach Kultursenator Carsten Brosda in einer sehr freundlichen, philosophischen Rede über die Liebe im allgemeinen und zur Kunst. Nach seiner Berechnung ergeben eins plus eins nicht immer zwei, sondern manchmal auch drei, wenn man offenen Mutes und tolerant sei gegenüber der Kreativität, Spielfreude und Fantasie von Kultur. Er zitierte seinen Lieblingsmusiker Bruce Springsteen und empfahl allen Besuchern des Festivals mehr Liebe zueinander, auch wenn der/die Gegenüberperson vielleicht eine andere Hautfarbe, Religion, sexuelle Orientierung oder politische Auffassung hat.

Kampnagel Intendantin Amelie Deuflhard bei der Eröffnungsrede - während sich der Kultursenator ein Schlückchen gönnt.Kampnagel Intendantin Amelie Deuflhard bei der Eröffnungsrede - während sich der Kultursenator ein Schlückchen gönnt.

Festivalleiter András Siebold, der schon in seinem Editorial im Programmheft mehr Liebe gefordert hatte, zitierte dafür James Baldwin: „Love takes off the mask that we fear we cannot live without and know we cannot live within“. Die demaskierende Wirkung der Liebe gilt ihm auch als allgemeine Grundvoraussetzung für ein friedliches, tolerantes und gemeinsames Leben, das wiederum notwendig sei, wenn wir Empathie- und Dialog-fähig sein wollen, um überhaupt wachsen zu können. Dementsprechend sieht er das gesamte Programm des diesjährigen Sommerfestivals, das er mit der Kuratorin Corinna Humuza und seinem über 100köpfigen Team im Laufe des letzten Jahres zusammengestellt hat, als Gradmesser für die Sensibilisierung des Publikums und für die Offenheit und Weltempfänglichkeit. Hauptziele des Festivals seien der Dialog und die weltweite Kooperation von Künstlern und Künstlerinnen aller Genres und der Vielfalt der Kunst und Kultur aus aller Welt.

Zum Auftakt war keine Geringere als die Tanz-Ikone Lucinda Childs und ihre Company geladen, das Internationale Sommerfestival mit vier neuen Arbeiten zu eröffnen. Die amerikanische Choreografie-Legende, die bereits seit den 1960er Jahren mit Künstlern wie Jasper Johns, John Cage, Robert Morris und Robert Rauschenberg innovative, neue Stücke in einer alten Kirche, der legendären Judson Memorial Church in Manhattan produzierte, revolutionierte den Gegenwartstanz. Sie lehnte die künstlerischen Ausdrucksformen und theatralischen Konventionen des traditionellen Tanz ab, sondern integrierte alltägliche Bewegungen wie Gehen und Laufen in ihre Arbeiten.

Lucinda Childs, Foto: (c) Alexandra PolinaLucinda Childs, Foto: (c) Alexandra Polina

Bei den gezeigten vier neuen Arbeiten handelte es sich um Uraufführungen, die ganz intim mit einem Duett nach Musik von Johann Sebastian Bach auf schwarzer Bühne mit zwei Tänzerinnen begannen. Dann folgte ein sehr eindringliches Solo der mittlerweile 84jährigen Choreografin und Tänzerin, die bewies, dass die große alte Dame des modernen Tanzes immer noch über eine unglaubliche Bühnenpräsenz verfügt. Dabei griff sie auf eine Idee aus den 60er Jahren zurück, indem sie vom renomierten Künstler Anri Sala eine multimediale Arbeit schaffen ließ, vor der sie mit minimalistischen Bewegungen und Gesten eine Radioübertragung des NFL-Championship-Football-Spiels zwischen den Cleveland Browns und den Baltimore Colts tänzerisch übersetzte. Sehr eindringlich, aber leider etwas zu lang.

Nach der Pause betrat die 7-köpfige Company aus 4 Tänzern und 3 Tänzerinnen die Bühne, um nach der sehr eindringlichen Cello-Komposition der isländischen Starmusikerin und Filmkomponistin Hildur Gudnadottir ein scheinbar leichtes Tanzprogramm aus Streckungen, Armschwüngen und Drehungen zu zeigen. Allerdings bewiesen die Tänzer*innen ihre unglaublich Präzision und Übereinstimmung mit der Musik und den tänzerischen Ambitionen ihrer Choreografin. Die Musik der Oscar-Preisträgerin Gudnadottir, die eine der gefragtesten Filmkomponistinnen der Jetztzeit in Hollywood ist und auch schon für Beyoncé und andere Stars arbeitet hat, kommt zwar sehr minimalistisch und teilweise harsch rüber, fordert den Tänzer*innen aber alles ab, die voller Disziplin und Grazie vortragen.

Lucinda Childs Dance Company, Foto: (c) Alexandra PolinaLucinda Childs Dance Company, Foto: (c) Alexandra Polina

Der Höhepunkt war dann das vierte Stück nach der Musik von Philip Glas (Distanz Figure), das sehr lyrisch und berauschend vom Pianisten Anton Batagov live eingespielt wurde. Er begann mit nur zwei Tönen und entfaltete die Komposition dann zu einer perlenden, komplexen und berauschenden Bewegung von Noten. Ebenso folgte das Bewegungsrepertoire der Tänzer*innen. Es gab viele Bewegungen, Drehungen, Sprünge und Hebungen, die sich in den Puls der Musik einarbeiteten, sich steigerten und aber auch wieder in sich zusammenbrachen. Die scheinbar schwebenden Bewegungen, die gleichsam einfach aber auch komplex sind, erzeugten ein wunderbares Bühnenbild, das begeisterte, während die hervorragend gespielte Musik für atemlose Stille sorgte. Jubelstürme und begeisterter Applaus beendeten eine großartige und wunderbare tänzerische Eröffnung.

Danach ging es für ein wenig Abkühlung und ein frisches kühles Getränk erstmal in den "Avantgarden", wo aber immer noch leichter Nieselregen die meisten Feierwilligen wieder in die Hallen zurücktrieb.

Entspanntes Beisammensein am 'Migrantpolitan', Foto: Holger KistenmacherEntspanntes Beisammensein am 'Migrantpolitan', Foto: Holger Kistenmacher

Also dann doch noch zum Eröffnungskonzert in die KMH, wo das kanadische Quartett von Timber Timbre mit schrägen Piano- und Vintage-Synthesizer-Klängen sich auf den Spuren eines Leonard Cohen bewegte und lyrische Pop-Mantra, wie „I need the Sun“ oder das Cover vom Ronettes-Klassiker „Be my Baby“ als pervertierte Song-Adaption vortrug. Der gefüllte Saal schwitzte wie verrückt, bei den von Timber-Timbre-Kopf Taylor Kirk vorgetragenen Songs zwischen Schwermut und Leichtfüßigkeit, die einen Spagat zwischen kunstvollen Melodien und Texten, in denen es auch um Borderline-Persönlichkeitsstörungen geht, machten. Irgendwie alt, aber auch erfrischend neu bewegte sich die Band zwischen Jazz, Folk und gewissen Jahrmarktsmusik-Anleihen.

Die nächsten drei Wochen versprechen noch unendlich viel aktuelles und politisch radikales an Kunst, Diskurs und Kultur in der gesamten Hamburger Innenstadt, wobei alle Museen und Ausstellungshäuser der Hamburger Kunstmeile bespielt werden, (zum Beispiel mit einer schrägen Performance an der Hamburger Kunsthalle der Moderne, wo ein Tänzer dreimal am Tag die Mauern des weißen Kubus runterlaufen wird - spannend). Auch die Hamburger Elbphilharmonie ist mit zwei Konzerten dabei (Catpower und Sampha). Ein absoluter Pflicht-Tipp ist das dreistündige Theaterspektakel der österreichischen Volkstheaterguerilla-Truppe von Nesterval, die eine leer stehenden Schule auf St. Pauli zu den Themen Faust und Schwangerschaftsabbruch bespielt und gemeinsam mit dem Publikum durch die Räume zieht.

Timber Timbre spielten zur Eröffnung, Foto: Holger KistenmacherTimber Timbre spielten zur Eröffnung, Foto: Holger Kistenmacher

Ein weiterer Muss-Tipp kommt von der argentinischen Ibsen-Preisträgerin Lola Alias, die ein Stück über Existenzkämpfe und Freiheitsutopien, gespielt von ehemaligen argentinischen Gefängnis-Insass*innen im Gepäck hat. In „Sane Satan“ bittet die Schweizer Performerin Teresa Vittucci zum Tanz mit dem Teufel als Ménage-à-trois zwischen zwei Performerinnen und dem Publikum.

Als weitere Premiere erinnert der US-amerikanische Choreograf Kyle Abraham in „Cassette Vol.1“ zum Soundtrack der 1980er Jahre an seine ersten eigenen Tanzerfahrungen. Dazu gibt es wie immer jede Menge Umsonst- und Draußen-Veranstaltungen von Lesung, Konzerte auf der Waldbühne und Kopfhörer-Tanz im "Avantgarden", sowie verschiedenste aktuelle Produktionen zwischen Avantgarde und politischem Kampf aus aller Welt. Aber auch der Spaß und die Party dürfte wie immer nicht fehlen. Am besten schaut man sich das umfangreiche Programm unter www.kampnagel.de an und besucht die eine oder andere Veranstaltung. Dort gibt es auch Infos über Tickets, Preise und das umfangreiche Umsonst-Programm.

Man sieht sich auf Kampnagel.

Holger Kistenmacher
Holger Kistenmacher
Jahrgang 1956, freischaffender Journalist seit gut 25 Jahren, studierter Realschullehrer, praktizierender psychosozialer Betreuer, ambitionierter Fotograf und Kulturschreiber mit den Fachgebieten: Moderne Gegenwartskunst, Literatur, Musik zwischen Jazz und Rock, Nordische Filme, Moderner Tanz. Weltenbummler und Reisejournalist.

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