Szene aus 'Age of Content', Foto: (c) Fabian Hammerl

Das Internationale Sommerfestival auf Kampnagel in Hamburg
Avantgarde, Pop-Kultur und virtuelle Welten

Mit einer wuchtigen Arbeit des Tanzkollektivs (La) Horde mit Unterstützung des Ballet national de Marseille wurde das drei Wochen andauernde Internationale Sommerfestival in der Kulturfabrik Kampnagel in Hamburg eröffnet. Mit der Tanzperformance „Age of Content“, einer wilden und kraftvollen Choreografie von Mensch gegen Maschine, begann wieder ein Reigen aus über 150 Veranstaltungen aller Genres und Gattungen, darunter 5 Welturaufführungen.

Das französische Tanzkollektiv unter der künstlerischen Leitung von Marine Brutti, Jonathan Debrouwer und Arthur Harel, die schon für Popstars wie Madonna, Fashion Shows oder Ausstellungen gearbeitet haben, war bereits mehrfach in Hamburg zu sehen. Diesmal haben sie eine energetische und vielfältige Arbeit als Welturaufführung auf Kampnagel gezeigt, die als Machtkampf zwischen Mensch und Maschine gedeutet werden kann.

Szene aus 'Age of Content', Foto: (c) Fabian HammerlSzene aus 'Age of Content', Foto: (c) Fabian Hammerl

Im Mittelpunkt steht dabei zunächst ein ferngesteuertes Auto, dem die Karosserie abhanden gekommen ist. Nach und nach wird das Gefährt von insgesamt 18 Tänzer/innen bearbeitet. Es gibt viel Gerangel und Kämpfe um die besten Plätze auf dem Auto, während immer mehr gesichtslose Gestalten die Bühne füllen. Zunehmend aggressiv agieren die Figuren, während sich das Auto mit Sprüngen und Schieflagen gegen die Menschen zur Wehr setzt. Immer wieder versucht sich das von einer Galerie gesteuerte Gefährt, der lästigen Menschenfracht zu entledigen bis es wieder hinter dem Vorhang verschwindet.

In der nächsten Episode geht es um ein kämpferisches Paarung-Ritual in einer Bewegungssprache aus fast schon anrührend ungelenken Bewegungen, die zwischen Sehnsucht, Sex und Abwehrkampf lavieren. Dazu stürzt eine Figur aus der Deckenkonstruktion in einen Pappkartonstapel und aus dem Off erklingen Musikfetzen von Alphaville: „Forever Young“. Das alles wirkt wie ein entfremdetes Computerspiel mit virtuosen Sprüngen, Läufen und Hebefiguren.

Szene aus 'Age of Content', Foto: (c) Fabian HammerlSzene aus 'Age of Content', Foto: (c) Fabian HammerlDann wird der Tanz unter dem fahlen Mond in einer surrealen Landschaft immer mehr zu einem expliziten Paarungstanz zwischen Anziehung und Abstoßung. Das Miteinander wird zum Gegeneinander, die Kopulation ist kaum von den Kampfposen des Wrestlings zu unterscheiden. Am Ende des fast 80minütigen Stücks explodieren die Tänzer und Tänzerinnen in einem wilden ekstatischen Finale zu energetischer Minimalmusik, die alle atemlos zurücklassen. Eine großartige Melange aus klassischen Gesten des modernen Tanzes und Bewegungsformen der Popkultur. Großartig.

Eine zweite Aufführung zog das Publikum hinein in die schwarze queere Disco-Kultur der 90er Jahre in New York. Heart of Brick heisst die schwule Bar in der sich schwarze Männer treffen und amüsieren. Der vielseitige Künstler und R&B-Sänger Serpentwithfeet erzählt seine Geschichte von Liebe und Trauer, die mit Musik, Gesang und virtuosen Tanzeinlagen von 6 Performern in intimen, teilweise recht kitschigen „Camp-Bildern“. Die Perspektive eines schwulen Nacht-Clubs ist versetzt mit Sex, Posing und Eifersüchteleien.

Serpentwithfeet 'Heart of Brick', Foto: (c) Fabian HammerlSerpentwithfeet 'Heart of Brick', Foto: (c) Fabian Hammerl

Insgesamt wird das neue Album „Grip“ von Serpentwithfeet mit 10 Nummern vorgetragen, während es um Spoken Word, vergiftete Pflanzen und ein mysteriöses älteres Männchen geht, das magische Rätsel aufgibt. Insgesamt ein Stück mit viel Glitzer und BlingBling, anrührender Musik und teilweise grandiosen Tanzeinlagen, die die Geschichte untermalen. Die Macher des Stücks verstehen ihre Arbeit als Hommage an den Film „Looking for Langston“ von Isaac Julien aus dem Jahr 1989, der das Leben des Dichters Langston Hughes und das schwarze queere Nachtleben während der Harlem Renaissance untersucht. Eine Bar, in der auch der Sänger seine schwulen Erfahrungen machen konnte. Dazu kam die Tanzfläche, die für die schwarze, queere Community ein Ventil, aber auch ein Treffpunkt war, um eine Gemeinschaft aufzubauen. Ein bunter, kitschiger Treffpunkt für Männer, die Nähe und Zärtlichkeit ausleben wollten.

Schräge Klänge von den DJs JAJAJA im AvantgardenSchräge Klänge von den DJs JAJAJA im Avantgarden

Danach ging es erstmal zum Verschnaufen und fröhlichem Beisammensein in den Avantgarden, wo schon die schrägen DJ´s von JAJAJA zum lautlosen Kopfhörertanz auflegten. Aber auch schon vorher war da zum Beispiel eine Lesung auf der Waldbühne zu begutachten, während man sich ein kühles Bierchen gönnte. Die nächsten Wochen haben noch so einige absolute Highlights der Gegenwart-Kultur zu bieten. So möchte ich besonders die neue Arbeit von Florentina Holzinger empfehlen, die mit ihren rein weiblichen Kunst-Spektakeln seit Jahren deutschlandweit für Furore sorgt. Aber auch Ausstellungen, wie zum Beispiel von Jacolby Satterwithe oder Konzerte mit den legendären SunRa Arkestra unter der Leitung des fast 100jährigen Marshall Allen sollten ganz oben auf der Besucher-Liste stehen.

Aber nicht nur auf Kampnagel gibt es Avantgarde für alle Geschmäcker, sondern auch verteilt in ganz Hamburg, zum Beispiel in der Elbphilharmonie, den Deichtorhallen oder der Kunsthallen werden neueste Werke vorgetragen oder aufgeführt.

Mehr Infos unter Internationales Sommerfestival auf Kampnagel im Netz https://kampnagel.de

Fotos: (c) Holger Kistenmacher

Holger Kistenmacher
Holger Kistenmacher
Jahrgang 1956, freischaffender Journalist seit gut 25 Jahren, studierter Realschullehrer, praktizierender psychosozialer Betreuer, ambitionierter Fotograf und Kulturschreiber mit den Fachgebieten: Moderne Gegenwartskunst, Literatur, Musik zwischen Jazz und Rock, Nordische Filme, Moderner Tanz. Weltenbummler und Reisejournalist.

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