Foto: (c) Holger Kistenmacher

Lukas Avendaño "Lemniskata"
Mystisches Tanz-Bühnenspektakel aus Mexiko auf Kampnagel

Zu Beginn rollen 13 nackte männliche Tänzer in Zeitlupentempo im grellen Licht von rechts nach links in Reihe auf den vorderen Bühnenrand. Mit minimalen Bewegungen schieben sich die Körper übereinander und eng aneinander geschmiegt über den schwarzen Boden.

Mit Verrenkungen und unter Mühen rappeln sich die Tänzer sehr langsam auf, bilden Paare, die sich Kopf an Kopf in männlicher Drohpose gegenüber stehen. Dann öffnet sich der große, schwarze Vorhang und gibt das überwältigende Bühnenbild frei. Es besteht aus Stahlrohr-Gerüsten, die durch Seile und runde Lichtkreise bestückt sind. In Slow-Motion nähern sich die nackten Schlangen-artigenTänzer - über den Boden windend - den Konstruktionen. Einige von ihnen hangeln sich an den Seilen bis zur Decke, während ein quadratisches Rohr-Geflecht sich langsam über die anderen am Boden kriechenden Tänzer senkt.

(c) Jaime Martin(c) Jaime Martin

Vier der Männer lassen sich dann, an Seilen hängend, unter zuckenden Bewegungen durch das Seilgeflecht bis unter das Hallendach ziehen. Dort vollführen sich akrobatische Verrenkungen oder bilden mit weiteren Tänzern Duos, die eng umschlungen wahre Artistik in schwindelnden Höhen präsentieren.

Der aus Tehuantepec in Oaxaca stammende Choreograf sieht sich selbst als eine Muxe. Dieser Begriff steht für eine dritte Geschlechtsidentität, die für das Volk der Zapoteken spezifisch ist und die vor der Kolonisierung und dem Christentum entstand. Dementsprechend forscht er in seinen Arbeiten über Vorstellungen von Sexualität, Geschlecht und Rasse. Gleichzeitig setzt er sich mit der Mythologie seines Landes, alten Traditionen, aber auch gegenwärtigen Problemen seiner Heimat auseinander. Es geht um Machismo und männliches Rollenverhalten, aber auch um Entführungen und Morde in Mexiko, die regelmäßig in dramatischen Zahlen stattfinden und denen auch sein Bruder zum Opfer fiel.

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Die Nacktheit der Tänzer verweist auf den Ursprung allen Lebens auf der Grundlage weiblicher Symbolik innerhalb der mexikanischen Kultur. So wird die Schlange, die sich in den Bewegungen spiegelt, die sich selbst gebiert, zur „Lemniskata“, dem Symbol für Unendlichkeit. Sein Bühnenspektakel ist der Versuch eines weiblichen Gegenentwurfs zu vorherrschenden, männlich dominierten Narrativen - ein Entwurf, in dem Verbundenheit und Einheit an die Stelle von Konflikten und unendlicher Gewalt tritt.

Dann vollführen die, mittlerweile mit langmähnigen Mensch-Tier-Masken verkleideten Tänzer, einen wilden Ritual-Tanz, der mit einer Sound-Collage auf teilweise live gespielten prähispanischen Instrumenten und Elektronik zwischen Urwald-Sound und Trommel-Gewitter unterlegt ist. Rasant hangeln sich diese Mischwesen durch das Seilgeflecht oder lassen die Hände symbolhaft fliegen.

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Dazu schreitet eine massige nackte Frau mit immensen Brüsten auf die Bühne. Auch sie verbirgt ihr Gesicht hinter einer langhaarigen Maske. Sie symbolisiert als „Coatlicue“ (diejenige mit dem Schlangenrock) die aztekische Erdgöttin. Sie ist eine respektlose, rebellische Göttin, die nicht den Himmel bewohnt, weil sie in den Tiefen der Welt lebt und dort auf uns wartet.

Lukas Avendaño schafft ein wunderbar ästhetisches Bühnenspektakel, das so manchen zu Beginn mit der Nacktheit der Tänzer provozieren oder schockieren dürfte, aber in der Schamlosigkeit auch als tänzerische Kritik an männlicher Gewalt und Dominanz gesehen werden muss. Auch und gerade in Anbetracht der 50.000 Menschen, die bei der Ankunft der Spanier in Mexiko zum Opfer fielen. Damals trafen die Europäer in dem Land, das ihnen völlig unbekannt war auf nackte Männer.



Ein überaus sehenswerter, mystisch aufgeladener Tanzabend zwischen Akrobatik, rituellen Tanz-Bewegungen und einem überwältigenden Sound-Bühnenbild-Spektakel.

Holger Kistenmacher
Holger Kistenmacher
Jahrgang 1956, freischaffender Journalist seit gut 25 Jahren, studierter Realschullehrer, praktizierender psychosozialer Betreuer, ambitionierter Fotograf und Kulturschreiber mit den Fachgebieten: Moderne Gegenwartskunst, Literatur, Musik zwischen Jazz und Rock, Nordische Filme, Moderner Tanz. Weltenbummler und Reisejournalist.

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