Sons of Kemet, Foto: (c) Sebastian Madej/Elbphilharmonie

Kulturfabrik Kampnagel in Hamburg
Internationales Sommerfestival - Teil 2

Die Kunst- und Kultur-Feiertage auf Kampnagel gingen bei bestem Sommerwetter weiter.

Zunächst überzeugte der kanadische Tausendsassa Kid Koala (Eric San), der nicht nur Musiker, Scratch-DJ, Theatermacher, Puppenspieler und Performer ist, sondern jetzt auch Filmemacher, mit seiner neuesten Bühnenarbeit „The Storyville Mosquito“. Dabei gab es auf der Bühne ein umfangreiches Filmset in Miniaturformat, wo in Echtzeit mit acht fahrenden Kameras, 15 Menschen und 75 Puppen ein virtuoser Animationsfilm mit live eingespielter Musik gedreht und gleichzeitig auf eine große Leinwand projiziert wurde.

Ohne Sprache, dafür mit Geräuschemacher, einem Streicher-Trio und Kid Koala als Multiinstrumentalist wurde ein lustiges, manchmal herzerwärmendes, oft trauriges Stück über die Träume vom musikbegeisterten Mosquito erzählt. Dieser träumt davon, mit der größten Jazzband aller Zeiten in der Sid Villa´s Music Hall aufzutreten. Dagegen stehen aber ein Avokadokopf als Manager, der grummelt und grunzt, sowie der fiese achtarmige Spider, der alle Träume durch Notenklau untergräbt. Es entwickelte sich ein humorvolle Story, deren Entstehung direkt vom Publikum miterlebt und durch Zurufe verstärkt werden konnte - einfach köstlich.

Kid KoalaKid Koala

Danach begab sich die amerikanische Underground-Ikone und Überlebenskünstlerin Little Annie auf eine gesungene und gespielte Reise durch ihr abenteuerliches Leben voller Abgründe, gescheiterter Liebesaffären, gefährlicher Drogen- und Alkohol-Missbräuche und avantgardistischer Performance. In Zusammenarbeit mit den Musikern Jim Coleman und Paul Wallfisch, der grandiosen Filmemacherin Beth B, sowie der Körper-Künstlerin Evelyn Frantic bot die vom Leben gezeichnete Chanteuse einen gesungenen, getanzten und performten Parforceritt über 45 Jahre auf der Avantgarde-Klippe des Lebens.

Little Annie, die schon mit sechzehn Jahren Frank Zappa begeisterte und verschreckte, war Zeit ihres ausschweifigen Lebens immer auf der Höhe, beziehungsweise den meisten anderen Künstler/innen jeweils eine Länge voraus. Die Underground-Künstlerin, die ihr Alter mit mehrere Jahrzehnte angibt, wirkte mal zart und gebrechlich, dann wieder tänzelt sie gekonnt über die Bühne, während sie über Schmerz und Verlust singt und philosophiert. Währenddessen bohrt sich die Florentina Holzinger-Performerin Evelyn Frantic lustvoll Spritzen-Nadeln durch den Arm. Schmerz und Lust liegen an diesem Abend eng beisammen. Dazu laufen im Hintergrund wunderbare Filmsequenzen der beiden Protagonisten am Strand, im Pool oder zwischen Beton. Ein Abend der großen Gefühle, der herben Niederlagen, aber auch der Möglichkeit immer wieder aufzustehen und weiter zu kämpfen - ganz großes Kino!

Evelyn Frantic und Little AnnieEvelyn Frantic und Little Annie

Hoch gesteckt waren die Erwartungen über den Auftritt des großartigen Nu-Jazz-Quartetts „Sons of Kemet“ in der Elbphilharmonie. Die vier Engländer, die ihren energetischen Highspeed-Jazz in ungewöhnlicher Formation (Shabaka Hutchings-Saxophon, Theon Cross-Tuba plus zwei Schlagzeuger: Eddie Hick und Tom Skinner) zelebrieren, überzeugten vor drei Jahren mit einer euphorisch abgefeierten Performance aus westafrikanischen Rhythmen, kombiniert mit karibischen Ska und amerikanischem HipHop beim Überjazz-Festival auf Kampnagel. Diesmal schienen sie aber von der Hochglanz-Architektur der Elphie überfordert.

Zu Beginn bekamen die Ton-Techniker die schwierige Akustik des Klassik-Tempels nicht in den Griff: Die ersten zwei Nummern boten einen Klangbrei, der hauptsächlich vom rasanten Rhythmus der Drums bestimmt waren. Aber auch als die Mixer den Sound besser hin bekamen, wollte das euphorische Feeling nicht so richtig aufkommen. Zwar wurden speziell die Soli von Hutchings an der afrikanischen Querflöte oder von Cross an der Tuba mit Pirouetten-Tanz-Einlagen vom ausverkauften Haus gefeiert. Aber die Überwältigung, die auch ihr letztes Album „Black to the Future“ erzeugte, wollte nicht wirklich auf das Publikum überspringen. Das lag nicht an den exzellenten Musikern, sondern eher an der zu cleanen Atmosphäre des Saals und der zu gemütlichen Bestuhlung. Man hätte sich das Konzert in einem dunklen Laden mit einem Bier in der Hand, ausgelassen tanzend und groovend gewünscht. Sehr schade, denn die Jazz-Band der außergewöhnlichen Art hat verkündet, dass sie sich bald auflösen werden. Die Chance für einen grandiosen Abschieds-Abend wurde damit verschenkt.

Sons of Kemet, Foto: (c) Sebastian Madej/ElbphilharmonieSons of Kemet, Foto: (c) Sebastian Madej/Elbphilharmonie

Dann gab es noch zwei sehr außergewöhnliche Tanz-Ereignisse aus Südafrika und Australien. In seiner neuen Produktion hat sich der aus New York stammende Choreograf Jeremy Nedd mit Impilo Mapantsula, einer hochkarätigen Tanztruppe aus den Townships um Johannesburg zusammengetan. Diese hat sich spezialisiert auf den Pantsula, eine südafrikanische urbane Tanzform, die besonders den städtischen Lebensstil als Ausdrucksform während der Apartheit in den Armenvierteln dokumentiert. Das geht hauptsächlich über ein gewisses Posing und einer modischen Coolness, die mit einer Leichtigkeit bei der besonders virtuosen Fußarbeit und grandios lockeren Knien einhergeht. Die rasante Tanzdynamik wird wie beim HipHop-Battle zwischen den Tänzer/innen noch dramatisch gesteigert. Begleitet wird diese mit hohem Tempo ausgeführte Tanztechnik durch den Klang der aufstampfenden Füße auf dem Boden, sowie Pfeifen und Stimmen, die aus der Tradition der Straßen der Großstadt kommen. Zusammen mit Musik aus den 70er und 80er Jahren wurde der Pantsula so zu einem Symbol der Sehnsucht nach persönlicher und politischer Freiheit.

Jeremy Nedd und Impilo MapantsulaJeremy Nedd und Impilo Mapantsula

Choreograf Nedd kombiniert diese urbane Tanzform mit dem politischen Anliegen der Dramaturgie, schwarzes Leben und Kultur sichtbar zu machen. Dieses gelingt ihm, indem er das Stück in den Wilden Westen verlegt, wo bereits die schwarzen Cowboys und Cowgirls kaum Beachtung fanden, obwohl sie 30 Prozent aller Kuhhirten ausmachten. Somit tauchen sie in den beliebten Western-Filmen kaum auf. Mit ihrer sensationell rasanten Tanztechnik gelang es sowohl dem Choreografen als auch dem hochklassigen Ensemble, dem überwiegend weißen Publikum eine veränderte Perspektive auf Mythen und Realität von John Wayne und Co. zu werfen.

Einen stark politischen Ansatz für ihre Tanzproduktion „Jurrungu Ngan-Ga“ hat auch die Multi-ethnische Tanzgruppe Marrugeku aus dem westaustralischen Broome gewählt. Ihre Inszenierung ist eine tänzerische und musikalische Generalanklage an den australischen Staat und die Medien, die sich hauptsächlich in den Händen von Rupert Murdoch befinden. Dementsprechend haben die Tänzer/innen ihr Stück auch explizit den getöteten Gefangenen in Gefängnissen gewidmet. Schon das Bühnenbild aus einer Metallwand, die aber transparent und auch als Untergrund für Solo-Einlagen genutzt wurde, symbolisiert die Staatsgewalt, die Flüchtlinge auf unwirkliche Südsee-Inseln (Nauru und Manaus) verbannt, Einwanderer schikaniert und drangsaliert und die tägliche Polizeigewalt speziell gegen indigene und farbige Einwohner des Landes.

Marrugeku: Jurrungu Ngan-GaMarrugeku: Jurrungu Ngan-Ga

In einer getanzten Form des Agitprop-Theaters, das sich an Bewegungen wie der „Black Lives Matter“, der LGBTQIA und der Aborigines-Selbstbestimmung orientiert, entwickeln die Performer ein Bewegungs-Repertoir aus indigenen Einflüssen, Voguing und Urban Dance. Anspielungen auf Gefangene, die gefesselt, geschlagen und getötet werden, erinnern an den Ausruf „I can´t breathe“, als dem Afroamerikaner Floyd Petterson in den USA von einem Polizisten die Luft abgeschnürt wurde. Seit 1991 wurden 438 indigene Familien identifiziert, deren Angehörige in Polizeigewahrsam ums Leben kamen. Eine hochpolitische und bildgewaltige Tanztheater-Inszenierung zwischen Wut, Widerstand und Freude - grandios und sehenswert.

Holger Kistenmacher
Holger Kistenmacher
Jahrgang 1956, freischaffender Journalist seit gut 25 Jahren, studierter Realschullehrer, praktizierender psychosozialer Betreuer, ambitionierter Fotograf und Kulturschreiber mit den Fachgebieten: Moderne Gegenwartskunst, Literatur, Musik zwischen Jazz und Rock, Nordische Filme, Moderner Tanz. Weltenbummler und Reisejournalist.

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