Kampnagel in Zeiten von Corona
Internationales Sommerfestival 2020 - Special Edition

Irgendwie erscheint alles normal, aber eben auch anders: Hygiene-Tipps, Vorschriften, Mund-Nasen-Masken, Desinfektions-Stationen, strenges Anmelde- und Vorverkaufs-Management, spezielle Einlasskontrollen und Sitzordnungen. Zu meiner Überraschung, aber auch Freude, findet zur Zeit tatsächlich auf Kampnagel das alljährliche Internationale Sommerfestival statt.

Wie schön, endlich einmal wieder erstklassigen Tanz im Theater zu sehen, trotz Corona und neuen Ängsten über eine zweite Welle, die anscheinend schon vor der Tür steht. Das Management von Kampnagel und vom Festival gibt sich jedenfalls alle erdenkliche Mühe, ein zeitgenössisches Programm zu bieten und gleichzeitig möglichst alle notwendigen Gesundheitsmaßnahmen für Publikum, Mitarbeiter und Künstler zu erfüllen. Auch wenn dadurch nicht die übliche ausgelassene Stimmung auf dem Festival aufkommen mag. Alles etwas verhalten bei Abstand und Weitläufigkeit und Vorsicht.

Sei's drum. Mir hat mein Besuch am Freitag Spaß gemacht. Endlich mal wieder im Theater, alte Freunde und Bekannte treffen und diskutieren, großartige Kunst der verschiedenen Genres sehen und erleben und dabei die "Scheiß-Corona-Nummer" endlich einmal für ein paar Momente aus dem Kopf streichen. Also, was gab es zu sehen?

Oona Doherty: Hope HuntOona Doherty: Hope Hunt

Zunächst konnte ich eine kleine, aber feine Choreografie von Oona Doherty, einer 34jährigen Nordirin, getanzt von der wunderbaren jungen Tänzerin Sandrine Lescourant-Mufasa im Freigelände hinter dem Kampnagel-Gelände auf einer Bühne im öffentlichen Raum genießen. Im Gänsemarsch wurden die Bezahl-Besucher von der Kasse zum weit entfernten Auftrittsort geführt, wo man auf gelben Punkten mit Abstand Aufstellung nahm, während das allgemeine Publikum aus Spaziergängern, Nachbarn und angetrunkenen Park-Abhängern gelassen das Geschehen verfolgte.

Ein "Proll-Auto" mit voll aufgerissener Anlage brettert vor, ein cooler Typ als Fahrer und DJ reißt sich erstmal ein Bier auf, bevor er die Tänzerin aus dem Kofferraum befreit. Anscheinend ist sie ein Mann, der sich typisch cool zwischen die Beine fasst, von Chelsea faselt oder verschiedene Anmach-Posen ausprobiert. In dem energetischem Stück geht es um "Männlichkeit" zwischen Proll, Macker, Gangster, Fußballer, Poser und Paradiesvogel.

Marlene Monteiro Freitas: CattivoMarlene Monteiro Freitas: Cattivo

Wunderbar, auch wenn der Schweiß sowohl bei Tänzerin wie Publikum bei den Hochsommer-Temperaturen in Strömen fließt. Zur Abkühlung ein kühles Blondes und dann in die Vorhalle von K6 zu der Groß-Installation von Marlene Monteiro Freitas: Cattivo. Eine wunderbar surrealistische Welt aus Hunderten von Notenständern - zerlegt, in Kreisen und Reihen angeordnet, als "Patient" ins Krankenbett gelegt oder mit seltsamen Gefühlen belegt. Eine sehr spannende, intelligente Schau, die man mehrfach besuchen möchte, um sich seinen eigenen Reim daraus zu machen. Die portugiesische Choreografin zeigt auf dem Festival übrigens auch ihre neue Gruppenarbeit MAL.

Dann der Höhepunkt meines Festival-Besuches: die neueste Arbeit der österreichischen Choreografin Florentina Holzinger:TANZ. 2020 wurde das Stück zum Tanz-Stück des Jahres ausgewählt, dann zum Berliner Theater-Treffen eingeladen und dann kam Corona. Alles auf Null. Auftritts-Absagen und -Verbote. Speziell für das Hamburger Festival haben sich sämtliche Tänzerinnen und Beteiligten seit Wochen in Selbst-Isolation begeben und Tests gemacht, um endlich wieder nach 5 Monaten vor Publikum aufzutreten.

Florentina Holzinger: TANZFlorentina Holzinger: TANZ

Wie gewohnt gibt es bei Holzinger viel nackte Haut zu sehen, atemberaubende Akrobatik, wunderbaren Tanz zwischen Ballett und Zeitgenössischem, sowie viel Spektakel und grelle Show, wie öffentliches Wasserlassen auf der Bühne oder die bluttriefende Geburt eines Hamsters durch die Tanz-Legende Trixi Cordua (ehemalige Star-Tänzerin bei Neumeier im Hamburg Ballett). Gezeigt wird die feministische Sicht von romantischem Ballett aus frühester Pariser Zeit als Ballett-Stunde unter Anleitung von Trixi Cordua. Vorbilder wie Baldachine, die Figur der Sylphide oder Schwanensee werden thematisiert. Es gibt großartigen Spitzentanz, aber auch schwebende Tänzerinnen, die sich selbst an den Haaren in die Luft ziehen oder auf hängenden Motorrädern unter der Bühnendecke rumturnen.

Es geht um den männlichen, voyeuristischen Blick von Männern auf nackte, athletische Frauenkörper, sexuelle Begierden bis an die Grenze zur Pornografie. Höhepunkt des Spektakel: Eine Tänzerin lässt sich buchstäblich Schwanensee-Flügel wachsen, indem sie sich ihre Rückenhaut durchbohren lässt, um sich daran unter die Bühnendecke ziehen zu lassen. Gruselig, aber spektakulär, wie immer bei Holzinger, die als Tanz-Provokatörin bekannt ist. Öko-Feminismus trifft auf Hexenkult, Frauenrechte auf Pornografie-Studien. Alles ziemlich speziell, aber auch spannend und sehenswert.

Und noch läuft das Festival bis zum 30. August 2020. Infos und Vorbestellungen unter kampnagel.de oder Kartentelefon : 04027094949

Holger Kistenmacher
Holger Kistenmacher
Jahrgang 1956, freischaffender Journalist seit gut 25 Jahren, studierter Realschullehrer, praktizierender psychosozialer Betreuer, ambitionierter Fotograf und Kulturschreiber mit den Fachgebieten: Moderne Gegenwartskunst, Literatur, Musik zwischen Jazz und Rock, Nordische Filme, Moderner Tanz. Weltenbummler und Reisejournalist.

Sie haben keine Berechtigung hier einen Kommentar zu schreiben.