[La Horde] - The Beast, Foto: Holger Kistenmacher

Kulturfabrik Kampnagel
Sommerfestival-Fazit

35.000 Besucher, ausverkaufte Hallen, großartige Veranstaltungen und ausgelassene Stimmung im Avant-Garten. So vielfältig, zukunftsorientiert, provokativ, innovativ, politisch und genderspezifisch wie selten kam das diesjährige Sommerfestival auf Kampnagel in Hamburg daher.

Dabei bot das von András Siebold kuratierte „Gesamt-Kunstwerk“ der darstellenden Künste zu Beginn zwar launige Eröffnungsansprachen, aber auch eine enttäuschende Eröffnungsvorstellung: Das Tanz-Stück „Marry me in Bassiani“ - eigentlich ein sehr politisches Stück des Aufbegehrens der Jugend von Tiflis nach massiven Polizeieinsetzen in dem gleichnamigen Club – entpuppte sich als kaum choreografiertes folkloristisches Getanze aus Georgien. Zwar konnten die ambitionierten Tänzer/innen anfänglich noch durch rasante Pirouetten und hohe Sprünge begeistern, aber nach spätestens einer halbe Stunde wiederholte sich nur noch ihr einseitiges Bewegungsrepertoire. Eine klare Choreografie des gelobten Medienkunstkollektivs (La)Horde war kaum erkennbar.

Ganz anders hingegen die gleichzeitig eröffnete Performance-Ausstellung von ihnen mit dem Titel „The Beast“. Im Mittelpunkt der sehenswerten Arbeit stand eine demolierte Stretch-Limo, Symbol der Macht, der Reichen und Schönen. Anspielungen auf den amerikanischen Wahlkampf, wo es zu Straßenkämpfen und Zerstörung von Luxuskarossen kam, sogenannten „Kissing-Contests“, wo man durch langzeitiges Küssen ein Auto gewinnen kann, oder die amerikanische Verfassung (We the people) wurden durch Performer/innen, die sich auf dem Auto lümmelten, als Absurdität gegeißelt. Dazu gab es eine Bild-starke Videowand und ein Reinigungsfahrzeug, das den gesprühten Slogan „Morgen ist abgesagt“ wieder wegwischte. Die Zuschauer waren mittendrin und konnten das gesamte Geschehen hervorragend begutachten.

[La Horde] - The Beast, Foto: Holger Kistenmacher[La Horde] - The Beast, Foto: Holger Kistenmacher

Ein absolutes Ärgernis war das folgende Konzert des selbsternannten Skandal-Rappers Taktlos, der als Underground Rap-Mysterium angekündigt war und die humorvolle Kunst der Beleidigung frönen sollte. Die vorangekündigte Provokation war allerdings nur dumm, peinlich und sexistisch. Mit Kriegsgeschrei und der platten Aufforderung zur Massenorgie mit Vergewaltigung des Nachbarn/der Nachbarin setzte er dem taktlosen Gegröle noch die Spitze auf. Welch ein pubertärer Unsinn! Shame on you! Dann wurde es aber besser! Mit der jungen russischen Performance-Tanzgruppe „Vasya Run“, die zunächst wie kleinkriminelle Hooligans mit Gesichtsvermummung daher kamen, zeigten eine fast schon meditative Choreografie zwischen Subkultur, Religion und Spiritualität – sehr eigen, aber gut und inspirierend.

Es folgte der Höhepunkt des Festivals: eine bestens aufgelegte Peaches mit einer Konzert-Varieté-Vaganza der Extraklasse. Die Ikone der Queer-Szene und radikale Feministin aus Los Angeles/Berlin hatte eine Bühnenshow kreiert, die insgesamt 40 Musikerinnen, Tänzer, Performer/innen und Artisten aufzubieten hatte. Es gab grandios rockende Stücke, sexuell aufgeladene Nummern zusammen mit Christeene – eine schrille Hardcore-Transe aus New York, eine in der Hallendecke turnende Artistin, grelle Tanzeinlagen, viel nackte Haut und ein sensationelles virtuelles Duett mit Iggy Pop, der per Videoleinwand neben Peaches sang und tanzte. Dazu kamen Kostüme, die an Opulenz und Schrille kaum zu übertreffen waren, sowie aufgeblasene Riesen-Penisse, aus denen Tänzer das Publikum mit Wasser voll ejakulierten und eine vom Publikum auf Händen getragene Queer-Diva, nämlich Peaches herself – einfach nur sensationell!!!

Peaches Spektakel mit allen Kunstmitteln, Foto: Holger KistenmacherPeaches Spektakel mit allen Kunstmitteln, Foto: Holger Kistenmacher

Aber auch sonst gab es Abseitiges der Extraklasse. Zum Beispiel aus Norwegen. Die Theatertruppe mit dem lustigen Namen „Susie Wang“ entpuppte sich als Trash-Splatter-Combo, die das Publikum mit zunächst unterkühlter Optik eines Museums täuschte, um dann über schwarze Löcher zu philosophieren, was schlussendlich in einem Blutbad mit schreiendem Baby und abgebissenem Busen der Mutter und Penis des Vaters endete. Ein gruselig – schauriges Horrormärchen zwischen Groteske und tief-schwarzem Humor: Ein köstliches Vergnügen der anderen Art.

Spooky wurde es dann auch mit dem Theaterstück, das vom Rimini Protokoll aus München mit gebracht wurde. Es ging am Beispiel des bipolaren Schriftstellers Thomas Melle um nichts weniger als die Zukunft des Theaters und einen beängstigenden Blick in das Verhältnis von Mensch und Maschine. Ein humanoider Roboter als perfekte Kopie von Thomas Melle erklärte dem erstaunten Publikum die manisch-depressive Erkrankung des Protagonisten und sinnierte über den englischen Erfinder des Computers: Alan Turing. Dieser hatte auch den 2. Weltkrieg stark beeinflusst, weil er die Enigma-Maschine der Nazis entschlüsselte, sich aber später selbst umbrachte, weil man seine Homosexualität kriminalisierte. Sätze wie „Ich verhalte mich, um meine Krankheit zu überwinden, wie ein Automat“, gesprochen von einem Roboter in Menschengestalt, während der eigentliche Protagonist als Video-Bild daneben steht, sorgten auch nach der Veranstaltung für reichlich Diskussionsbedarf unter den Besuchern dieses sehenswerten Theaterstücks. „Irgendetwas stimmt hier nicht!“ Faszinierend, aber auch beängstigend!

Der doppelte Thomas Melle, Foto: Holger KistenmacherDer doppelte Thomas Melle, Foto: Holger Kistenmacher

Herausragend dann zum Abschluss des Festivals auch die aufwendige Tanz-Produktion von Aszure Barton und ihren exzellenten neun Tänzern und Tänzerinnen. Mit Hilfe der auf der Bühne gespielten Musik des Piano-Virtuosen Hauschka und einer Cellistin konnten die Ballett-erprobten Tänzer/innen ihre ganze Klasse vorführen, die darin bestand, auf Spitzen Pirouetten zu drehen und elegant ihre Körperlichkeit in allen Facetten zu zelebrieren. Das experimentelle Klavierspiel mit Rasseln und Schellen auf den Piano-Seiten und Elektroverstärkungen der Pedale von Hauschka (Volker Bertelmann), auf einer runden Video-Leinwand im Detail zu besichtigen, bildete eine grandiose Grundlage für ein sehr stimmiges Abschlussfest der Akustik und tänzerischen Ästhetik.

Holger Kistenmacher freut sich schon jetzt auf das nächste Festival 2020.

Holger Kistenmacher
Holger Kistenmacher
Jahrgang 1956, freischaffender Journalist seit gut 25 Jahren, studierter Realschullehrer, praktizierender psychosozialer Betreuer, ambitionierter Fotograf und Kulturschreiber mit den Fachgebieten: Moderne Gegenwartskunst, Literatur, Musik zwischen Jazz und Rock, Nordische Filme, Moderner Tanz. Weltenbummler und Reisejournalist.

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