(c) Liza Bukreieva: Roadblock near my home

"The New Abnormal" in den Deichtorhallen
Aktuelle Fotos aus dem Kriegs-Alltag in der Ukraine

Die Eskalation des Krieges und der Einmarsch der russischen Truppen in die Ukraine vor einem halben Jahr hatten erhebliche Auswirkungen auf die Geschichte und das Leben in der Ukraine. Alle Bereiche des politischen und sozialen Lebens der Menschen in dem Land sind davon betroffen.

Von einem auf den anderen Moment wurde das Leben in ein „Vorher“ und ein „Während“ gespalten. Schock, Leugnung, Angst, Flucht, Akzeptanz und Anpassung waren die Folge. Zwölf ukrainische Fotograf/innen haben in den letzten Monaten mit ihren Kameras dokumentiert, wie sich das Alltagsleben der Menschen verändert hat, welche Anpassungsprozesse stattfanden und wie sich gewohnte Verhaltensregeln und Alltagsroutinen im privaten und öffentlichen Raum ändern und anpassen mussten.

Im Zuge einer Zoom-Konferenz zwischen Ingo Taubhorn, dem Kurator des Hauses der Fotografie in Hamburg und Katerina Radchenko, der Gründerin des Odessa Photo Days Festival begann der Kontakt und die Planung der aktuellen Ausstellung im Phoxxi, dem temporären Haus der Photographie der Deichtorhallen in Hamburg. Dort sind jetzt Werke von ukrainischen Fotograf/innen bis zum 6. November zu sehen, die dokumentieren, wie es sich in dem Land lebt angesichts des Krieges.

(c) Daniil Russov: Single works(c) Daniil Russov: Single works

Dabei sind die beteiligten Teilnehmer/innen keinesfalls Kriegs-Fotografen, sondern eher solche, die normalerweise Landschaften ablichten oder Porträts von Mensch und Tier produzieren. Doch die jetzigen Gegebenheiten zwangen sie dazu, die neue Abnormalität des Lebens in ihrem Heimatland zu dokumentieren. So sind die ausgestellten Werke der Foto-Künstler überwiegend in den letzten drei Monaten entstanden, weil „man sich arrangieren muss, den Schrecken nicht außen vor lassen kann“.

So hat zum Beispiel Mila Teshaieva in ihrer Serie „Diary from Kiev - Moments of Life“ seit dem Beginn des Einmarsches am 24. Februar ihre Heimatstadt Kiew durchstreift, um nach Bildern und Geschichten zu suchen, welche sowohl die Zerstörungen, aber auch die Einigkeit und den Widerstand zeigen.

(c) Oksana Parafeniuk: Single works(c) Oksana Parafeniuk: Single works

Alexander Chekmenev hat Opfer des Krieges porträtiert und ihre Geschichten von Leid und Tod gesammelt, um später in einem Foto-Buch für die Nachwelt ein Dokument des Krieges und seiner Folgen für die normale Bevölkerung zu erstellen. Ihm ging es nicht um die bekannten Gesichter und Persönlichkeiten des Landes, sondern insbesondere um die Menschen, die nicht fliehen konnten, sondern an Ort und Stelle blieben. „Das Land besteht aus Menschen, und ich möchte jeden einzelnen hervorheben und respektieren“.

Vladislav Krasnoshchok ist eigentlich Zahnmediziner und arbeitet im Krankenhaus seiner Heimatstadt Charkiw, aber seit Beginn der Invasion dokumentiert er mit seiner Kamera den Krieg. Seine Schwarz-Weiß-Bilder sehen aus wie aus dem zweiten Weltkrieg. Voller Adrenalin hat er sich direkt bis an die Front heran gewagt, wurde beschossen. Sein Auto hatte zwei Einschüsse.

(c) Pavlo Dorohoi: aus der Serie 'Traces of Presence'(c) Pavlo Dorohoi: aus der Serie 'Traces of Presence'

Wie sich Menschen in solch einer Situation irgendwie einrichten, zeigen die Bilder von Pablo Dorohoi, der in seiner Serie „Traces of Presence“ in der U-Bahn von Charkiw fotografiert hat. Jede U-Bahn-Station ist so zu einer einzigartigen unterirdischen Welt mit eigenen Merkmalen geworden. Mit Teppichen, Möbeln, Decken, Campingzelten und anderen improvisierten Mitteln haben sich die Menschen so zumindest ein paar wenige Quadratmeter Privatheit und Sicherheit geschaffen.

Ein Unterarm mit den tätowierten Umrissen der Ukraine auf der Haut oder eine Hand, die eine Handgranate umschließt, so sehen die farbigen Bilder von Mykhaylo Palinchak aus. Fast schon PopArt, allerdings mit bösen Inhalten, wie zum Beispiel das Denkmal, von dem nur noch ein Arm in den Himmel ragt unter den weißen Sandsäcken, die das Kulturgut der Ukraine vor Raketen schützen soll.

(c) Mykhaylo Palinchak: Sirens Whisper(c) Mykhaylo Palinchak: Sirens Whisper

Alle zwölf teilnehmenden Foto-Künstler/innen (Lisa Bukreyeva, Alexander Chekmenev, Pablo Dorohoi, Nazar Furyk, Vladyslav Krasnoshchok, Sasha Karmas, Mykhaylo Palinchak, Oksana Parafeniuk, Daniil Russov, Alina Smutko, Elena Subach und Mila Teshaieva) haben sich bei ihrer Arbeit immensen Gefahren ausgesetzt. Und auch das diesjährige Foto-Festival in Odessa musste wegen der unkalkulierbaren Kriegssituation abgesagt werden. Deshalb ist es besonders lobenswert, dass die Arbeiten jetzt in Hamburg und später auch noch in Paris, Amsterdam und Kopenhagen zu sehen sein werden.

Die Deichtorhallen haben dabei nicht nur das Ziel, aktuelle, ganz frische Bilder zu zeigen, sondern wollen den Bildern und Künstlern auch einen „safe space“ bieten, um die Fotografen/innen zu unterstützen. Dazu sagte der anwesende Fotograf Alexander Chekmenev: „Es ist wichtig, die Fotos jetzt zu machen, weil jetzt alles passiert und in wenigen Momenten vieles nicht mehr existiert.“

(c) Liza Bukreieva: Snow grains(c) Liza Bukreieva: Snow grains

The New Abnormal, eine Kooperation mit dem Odessa Photo Days Festival: Phoxxi. Haus der Photographie Temporär. Deichtorhallen Hamburg, bis zum 6. November 2022.

Infos unter www.deichtorhallen.de

Holger Kistenmacher
Holger Kistenmacher
Jahrgang 1956, freischaffender Journalist seit gut 25 Jahren, studierter Realschullehrer, praktizierender psychosozialer Betreuer, ambitionierter Fotograf und Kulturschreiber mit den Fachgebieten: Moderne Gegenwartskunst, Literatur, Musik zwischen Jazz und Rock, Nordische Filme, Moderner Tanz. Weltenbummler und Reisejournalist.

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