Im Theater läuft Georg Friedrich Händels „Semele“. Sie ist als „Oper“ angekündigt, aber als eine „nach Art eines Oratoriums“. Ja, was nun? Sucht man Hilfe in Monografien, wird sie schon mal eine „Halb-Oper“ (RM) genannt, was aktueller Jargon zu „einzigartiger Hybrid“ wandelt, so zu finden im Programmheft.
Dort ist auch Charles Jennens, der „Messias“- Librettist vermerkt, der sie schlicht „eine zotige Oper“ nannte. Historisch verbürgt ist, dass Händel sie 1744 in London als „Oratorium“ uraufführte. Historiker meinen, dass dafür wohl äußere Gründe vorgelegen haben, denn Händel hatte erfahren müssen, dass seine italienische Opernwelt mit ihrer stilisierten Stimmakrobatik und Hofkultur nicht mehr gefragt war. Oratorien mit Bezug zu dramatischen Handlungen aber könnten es richten. Das wirft die Frage auf: Ist auch der heutige Operngänger an einem ähnlichen Scheideweg? Füllt deshalb die „Semele“ wieder mancherorts den Spielplan, in Berlin zum Beispiel, in Karlsruhe oder in München - und überall mit großem Beifall? Auch in Lübeck hatte sie bei der Premiere (15.11.2024) einen Sturm der Begeisterung entfacht.
Stephen Lawless, der in Lübeck schon einige Male einleuchtend inszeniert hatte, musste sich nicht entscheiden. Er brachte beides und begann in Art nur eines Oratoriums. So durfte sich der Besucher über ein Podest oberhalb des Orchestergrabens nicht wundern. In der Mitte prangte ein Cembalo, rundum Pulte für ein kleineres, eben barockes Ensemble. Nach hinten verstellte die Bühnentiefe eine Holzwand, die immer genommen wird, wenn das Opernhaus für eine konzertante Darbietung herhalten muss. Erst nachdem ein Teil der Ouvertüre verklungen war, kamen die Choristen, alle edel in Schwarz gekleidet. Zeremoniell und festlich wirkte das. Sie nahmen erwartungsvoll Platz und schmetterten dann ihre Segenswünsche (Bühne und Kostüme: Ashley Martin-Davis).
Links und rechts vor dem Orchester warteten vier weitere Stühle auf die Solisten. Nur drei traten zunächst auf, ganz links Ino, Semeles Schwester, und neben dem Cembalo Athamas, der böotische, für Semele auserwähle Prinz. Rechts blieb der Stuhl frei, während ganz außen ein Würdenträger sich zu beruhigen suchte. Es war Thebens König Cadmus, der Vater von Semele. Da das Zeremoniell schon begonnen hatte, nahm die Unruhe noch zu, auch bei den anderen. Wo blieb die „Braut“? Schließlich sprang Cadmus auf, um mit ihr, mit Semele am Arm gepackt, auf die Bühne zurückzukehren.
Inzwischen hatte der Besucher erkannt, dass hier wohl doch kein Oratorium geboten würde. Der Chor mimte das thebanische Volk, das an Orakelverkündigung und Vermählung von Semele mit Athamas teilzunehmen hatte. Es musste erleben, wie Semele sich zickig weigerte, dem väterlichen Gutdünken zu folgen, nur weil sie sich als Lustobjekt Jupiters ein besseres Dasein erträumte. Das hatte böse Folgen, erzürnte Cadmus, machte Athamas untröstlich, stimmte dagegen Ino hoffnungsvoll. Sie hatte schon länger ein heimliches Auge auf den Prinzen, der nun wieder frei wäre.
Das Publikum hatte viel zu schmunzeln, gar zu lachen, wieder ein Zeichen, dass es wohl doch kein Oratorium gäbe, vielmehr eine hübsch aufgepeppte antike Story. Das, was Stephen Lawless aus dem Märchen von der Schönen, die nach Ewigkeit suchte und daran verbrannte, hatte wirklich Pfiff. Schon der erste Akt besaß ein großes Maß an Spielwitz. Es war oben schon angedeutet, dass anfangs schon alles ohne jede Starrheit ablief, wie Semele sich etwa mit Vater und Schwester stritt, den „Zukünftigen“ abwies oder Ino den Prinzen anglummerte.
Schwer hatte es das Publikum, das mit „Oratorium“ Religiöses verbindet, denn das von William Congreve 37 Jahre vor der Komposition geschaffene englisch-sprachige Libretto setzte schon gewisse Vertrautheit mit der griechischen Mythologie voraus. Leicht hatte es der, der wusste, dass die Titelfigur Semele es zwar als menschliche Schönheit schaffte, langzeitig Jupiters Geliebte zu sein, sie aber beim Versuch, wie er unsterblich zu werden, an Juno scheiterte, der rechtmäßigen Ehefrau des Göttervaters und olympischen Schwerenöters. Juno beherrschte noch mehr Tricks, musste allerdings mit viel Finesse vorgehen, bis sie es schaffte, ihre Rivalin in einen Haufen Asche zu verwandeln. Deshalb dauerte die gesamte Aufführung nahezu drei Stunden.
Die füllte Lawless, indem er nach bekannten Parallelen suchte, wo sexsüchtige Potentaten die herausstechende Schönheit von Frauen für eigene Spielereien nutzten. Er fand sie in der (auch schon historischen) Liaison von einem überregional bedeutsamen Oberhaupt mit einer weltweit bekannten Filmdiva. Das eine war John F. Kennedy, ein wahrlich prächtiges Vorbild als Jupiter der USA. Die Frau, die er liebte (oder was auch immer), war Marylin Monroe. Sie braucht nicht vorgestellt zu werden. Ob das Bestehen des Verhältnisses allerdings rechtens behauptet werden kann, sei nicht hinterfragt.
Der Wandel vom Oratorium hin zur Oper erfolgte nach einem musikalisch grandiosen Quartett und Händels raffinierter Unwetter-Musik. Grandios der Einfall der Regie, dazu das Orchester in den Graben abzusenken. So war fortan die Handlung auf dem Oymp angesiedelt, der in den USA das Weiße Haus ist. Kostümschneiderei und Schminke verwandelten die antike Semele in eine veritable Marilyn Monroe, die sich „nicht mit Geringeren“ begnügen will, „als dem Höchsten“. Es ist bewundernswert, wie die junge Sophie Naubert diese Rolle musikalisch mit ihrer artistischen Sangeskunst bewältigte (Lerchen-Arie!) und mit welchem komödiantischen Geschick sie gleichzeitig ihre beiden Bühnenexistenzen ausstattete.
Neben ihr hatte Frederik Jones es schwer. Dennoch konnte er sich mit guter Bühnenpräsenz und einem sehr sicheren und vom Timbre her schönen Tenor behaupten. Auch Schwester Ino, gesungen von Laila Salome Fischer (die Lübecker kennen sie noch) mit makellosem und voluminösen Alt, dazu gewandt im Wechsel ihrer beiden Charaktere, bekam ein antikes Alter Ego. Sie wurde zur Juno, die fortan die Geschicke leitete. Ihr „half“ dabei Somnus, der Gott des Schlafes. Seine Auftau-Szene sticht hervor. Sie ist mit der Reihe von Tiefkühlschränken aufwändig, aber schön schräg.
Da auch er ein Doppelleben als Cadmus zu führen hatte, stand Florian Götz mit seinem eher schlanken, dennoch klangvollen Bass fast ständig auf der Bühne. Die Altistin Delia Bacher hatte in einer Hosenrolle den Athamas in seiner eher komischen Trauer zu singen und Andrea Stadel die Götterbotin Iris lebendig werden zu lassen. Als solche hatte sie nicht nur J.F. Kennedy zu dienen, auch viele Pannen zu verhindern und Juno zu stützen. Ihr in allen barocken Techniken sicherer Sopran und die sehr gute Textverständlichkeit, zudem ihr unaufdringlicher Spielwitz rundeten das sehr charaktervolle Gesangsensemble ab.
All das stellt Händel in bemerkenswert charakteristischen ein- oder mehrstimmigen Partien dar sowie in mitreißenden Chor- und Orchesterstücken. Lübecks agiler 1. Kapellmeister Takahiro Nagasaki hat ein besonderes Geschick dafür, das Orchester vom Cembalo aus feinsinnig zu führen, auch den Sängern Hilfen zu geben. Klangschön und im Spiel ausnehmend sicher präsentierte sich der Chor mit seinen vielen Aufgaben (Einstudierung: Jan-Michael Krüger). Wenn auch von einem Theaterorchester Purismus in barocker Stilreinheit nur bedingt zu erwarten ist, war die musikalische Seite dieser Aufführung hörenswert, die Bühnenaktionen dazu machten es zum Ereignis.