Chor und Statisterie des Theater Lübeck, Jacob Scharfman (Paolo Albiani), Foto: (c) Olaf Malzahn

Verdis „Simon Boccanegra“ in Lübeck
Das Leben, ein schrecklicher und gespenstischer Wahn

Giuseppe Verdis „Simon Boccanegra“ war für Lübeck schon einmal projektiert, vor fast genau drei Jahren. Corona aber verhinderte, dass die Oper realisiert wurde. Sie sollte Finalstück der damals scheidenden Operndirektorin Katharina Kost-Tolmein werden, in dem Stefan Vladar, ihr Nachfolger im Amt, die musikalische Leitung gehabt hätte. Jetzt war sein Stellvertreter damit betraut, der erste Kapellmeister Takahiro Nagasaki. Er fand mit den Lübecker Philharmonikern den treffenden Ton für eine musikalisch hörenswerte Inszenierung.

Es ist verdienstvoll, dass Lübeck sich wieder auf das Vorhaben besann, denn Verdis „Boccanegra“ war jahrzehntelang in Lübeck nicht zu hören, ist auch anderswo immer eine Rarität - und das von Anbeginn. Für Lübeck fand die Italienerin Pamela Recinella zusammen mit dem Bühnenbildner Jason Southgate eine zunächst fahle, dann höchst farbige Interpretation (Premiere: 12. Mai 2023). Erstaunlich ist das, weil dieser Verdi-Oper sehr viel Düsteres anhaftet. Denn es geht darin um heftiges Machtgerangel zwischen Aristokraten und Plebejern und auch um solches innerhalb der Lager. Liebesverwicklungen, sozial höchst spannungsvoller Art, verbunden mit gleich zwei tragischen Vater-Tochter- Beziehungen müssen würzen, zumal sie auch eine Frauenstimme in das fast ausnahmslos männliche Stimmreservoir bringen. Nur im Chor darf das Volk in einigen Auftritten gemischt sein. 

Yoonki Baek (Gabriele Adorno), Flurina Stucki (Amelia Grimaldi), Gerard Quinn (Simon Boccanegra), Foto: (c) Olaf MalzahnYoonki Baek (Gabriele Adorno), Flurina Stucki (Amelia Grimaldi), Gerard Quinn (Simon Boccanegra), Foto: (c) Olaf Malzahn

Das Libretto hat schon zu Uraufführungszeiten die Köpfe verwirrt. Es wird berichtet, dass die damaligen Besucher mehr in den Textbüchern lasen als zuhörten. Auch heute scheint es noch schwer zu sein, eine plausible inszenatorische Lösung zu finden. Wie ließe sich sonst der respektvolle Bogen um den „Boccanegra“ erklären? Denn seine Musik ist ungewöhnlich, zwar ohne große Gesangshits, dafür feinsinnig und in Verdischer Straffheit mit Tiefgang und Wucht. Schlagkräftig und eng dem Gefühlschaos angepasst überbrückt sie zwischen dem Prolog und den drei Akten eine Zeitspanne von mehr als zwei Jahrzehnten. Verdi ist grandios darin und das ist in Lübeck auch exzellent zu erleben. 

Dies alles auch szenisch glaubhaft zu gestalten ist dagegen für Sänger und Regisseure weit schwerer, zumal sich einzelne Personen vom Förderer zum Feind wandeln (Paolo und Pietro), andere ihre Identität wechseln (Jacopo Fiesco wandelt sich zu Andrea) oder von ihrer eigenen Herkunft nichts wissen (Maria). Zudem, um nur ein Element der tragischen Handlung herauszugreifen, geht es hier um sehr ungewöhnliche Todesarten, wobei das Vergiften oder Erstechen noch das Üblichste ist. Diffiziler ist das Verkümmern-Lassen, das einer heimlich Liebenden vom leiblichen Vater gleich im Prolog widerfährt und das dem Gefüge von Rache und Intrige rechten Schwung gibt. Reizvoll ist aber auch, dass jemand (Paolo) sich selbst verfluchen muss, woraus sich besonders Perfides entwickeln lässt. Das Sujet erlebbar zu machen, hatte sich der Librettist Francesco Maria Piave schon zur Uraufführung einiges ausgedacht. Aber erst Arrigo Boitos Innovationen 24 Jahre später und Petrarcas Texthilfe führten zusammen mit Verdis Neuerungen dazu, die Oper zu retten.   

Jacob Scharfman (Paolo Albiani), Foto: (c) Olaf MalzahnJacob Scharfman (Paolo Albiani), Foto: (c) Olaf Malzahn

Der Regisseurin Pamela Recinella wurden im Theaterheft einige tiefgreifende Überlegungen entlockt, in denen der Titel „Eco d’Inferno“ (Echo der Hölle) der rote Faden ist. Hieronymus Bosch mit seinen Höllenbildern und der leibhaft auf der Bühne segelnde Nachbau seines Narrenschiffs, daneben die beiden Pieter Bruegels mit ihren grotesken Figuren vom Schlangenmensch bis zum blinden Richter oder Dante mit seinen Inferno-Vorstellungen geistern in ihrem Kopf, ohne mehr als eine bunte Melange zu ergeben. Selbst der leibhaftig erscheinende Gevatter Tod mit Stundenglas, der Paolo das Gift für den Todestrank mischt, tritt beiläufig und harmlos auf.

Andere Einzelheiten wie die Kostüme aus dem späten Mittelalter, die naiv wirkenden Wellenkulissen, deren stützendes Lattengerüst beim Drehen sichtbar wird, helfen nicht wirklich, einen tieferen Sinn zu finden. Allenfalls das optisch wirksame Narrenschiff transportiert neben Passagieren auch Bedeutung. Im Prolog ist es Korsarenschiff, für Boccanegra einst „Amtsgefährt“, mit Sklaven und an Krätze leidenden Seeleuten. Später wird es mehr zum echten Narrenschiff. Aber auch das sieht auf der Bühne bewegt aus wie ein Handwagen unter Segeln. Doch Verdis Musik übertrumpft alles, denn sie ist menschlicher, auch durch närrische Geister nicht zu besiegen. Umso ärgerlicher ist, dass mehrmals Duett- und Terzettschlüsse musikalisch abgewürgt werden, wenn eine neue Szenerie sich in sie hineindreht.  

Flurina Stucki (Maria Boccanegra), Gerard Quinn (Simon Boccanegra), Foto: (c) Olaf MalzahnFlurina Stucki (Maria Boccanegra), Gerard Quinn (Simon Boccanegra), Foto: (c) Olaf Malzahn

Die Regie lockt anfangs auf eine falsche Fährte. Sie zeigt zum Vorspiel Boccanegras letzte Begegnung mit Maria, seiner großen Liebe. Beide bemühen sich verzweifelt, sich zu berühren, obwohl Maria in einem Glaskäfig steckt. Das lässt ein Liebesdrama erwarten, erst danach kündigt sich der tragische Ausgang an, der die Handlung immer mehr zum Politthriller werden lässt. Doch das ist einer mit großer Moral. Pamela Recinella formuliert das so, dass Boccanegra erkennen muss, „dass er mit der Annahme des Dogenamtes nicht nur auf seine Freiheit, sondern auch auf seine Integrität verzichtet hat.“ 

Wahrlich schwer, das mit Narren und Monstern mit drei Köpfen plausibel zu machen. Aber Lübeck musste in seiner Premiere noch mit anderen Unbilden kämpfen. Der immer stimmlich versierte und nobel spielende Gerard Quinn hatte schon länger mit einer Erkältung zu kämpfen, musste deshalb seinen Boccanegra gesanglich trickreich zwischen Macht und Menschlichkeit hindurchlavieren. Zugleich tangierte ihn auch das zweite Missgeschick des Abends. Rúni Brattaberg war die Rolle seines wichtigsten Gegenspielers übertragen, die des Genueser Adligen Jacopo Fiesco. Er musste mittags ganz absagen, so dass in aller Eile Almas Svilpa aus Essen kam und einsprang. Er rettete nach ein paar Einweisungen und dem Versuch, ihm ein Kostüm anzupassen, die Vorstellung. Seinem Gesang war von den Wirren nichts anzumerken, seine Stimme erfüllte alle Wünsche.

Flurina Stucki (Amelia Grimaldi), Yoonki Baek (Gabriele Adorno), Changjun Lee (Pietro), Foto: (c) Olaf MalzahnFlurina Stucki (Amelia Grimaldi), Yoonki Baek (Gabriele Adorno), Changjun Lee (Pietro), Foto: (c) Olaf Malzahn

Die einzig große weibliche Partie, die Amelia, sang Flurina Stucki, Gast von der Deutschen Oper Berlin. Es wurde ein großartiges Geschenk für die Besucher. Sie machte aus ihrer lyrischen Auftrittsarie als Amelia mit dem stimmungsvollen „Come in quest’ora bruna“ einen betörenden Höhepunkt. Auch ihre Duette mit allen männlichen Protagonisten meisterte sie bewundernswert. Darunter war der mit Gabriele Adorno, ihrem heimlichen Geliebten. Yoonki Baek sang ihn, wie immer leicht und beweglich, auch ausdrucksstark. Manchmal störten nur wieder die Glottischläge beim Sprung in die Tenorlage. Der Widerpart als Bewerber um ihre Hand hatte Jacob Scharfmann mit seinem kräftigen Bass-Bariton übernommen. Seine Szenen strotzten stimmlich und auch darstellerisch vor Lebendigkeit, besonders die anfangs, in der er mit Changjun Lee als Pietro wetteiferte, Boccanegra zum Dogen zu machen. Lee ist ein junger, ungemein kräftiger Bariton aus dem Opern-Elite-Studio, dem man eine große Zukunft voraussagen kann.

Der Chor, von Jan-Michael Krüger einstudiert, war stimmlich ausgesprochen wohlklingend, hatte zudem sehr wandlungsfähig zu spielen, vor allem aber die makabre Geisterwelt darzustellen, etwa beim gegenseitigen Aufspießen mit Heugabeln. „Simon Boccanegra“, Verdis Oper aus dem Jahre 1857, wird in Lübeck, wie üblich in der Zweitfassung von 1881 gespielt. Doch wie schon das Libretto sich nicht  entscheiden kann, das menschlich Schicksalhafte oder das politische Kalkül in den Vordergrund zu stellen, so kann das auch die Inszenierung nicht. Das Publikum genoss dennoch die Musik und wohl auch die farbenprächtigen Bühnenbilder, in denen die Protagonisten in einigen Momenten optisch untergingen.  

Termine: 24.05.23 um 19:30 Uhr und 18.06.23 um 16 Uhr



Arndt Voß
Aufgewachsen in Neumünster, in Lübeck seit 1959. Studium in Kiel und Hamburg (Musik- und Literaturwissenschaft). Ständige Mitarbeit an den Lübeckischen Blättern von 1974 bis 2014, Berichte und Kritiken darüber hinaus in einigen anderen Organen. Schwerpunktthemen: Musiktheater, Schauspiel, Konzerte.

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