Edna Prochnik (Mrs. Herring), Frederick Jones (Albert Herring), Julia Grote (Florence Pike), Bea Robein (Lady Billows), Wolfgang

Benjamin Brittens „Albert Herring“ im Theater Lübeck - Muntere Mis(s)wahl in Loxford

Am Lübecker Theater ist der englische Regisseur Stephen Lawless zu einer Art Hausregisseur geworden.

Sein hoch geschätzter „Figaro“ Ende Januar, leicht und mit treffenden Akzenten auf der Bühne und im Graben, beweist, dass er nicht nur Benjamin Britten kann. Mit dessen „Owen Wingreve“ hatte er vor zwei Jahren und mit „The Turn of the Screw“ im letzten Jahr die Zuschauer begeistert. Nur eineinhalb Monate nach dem Mozart folgte jetzt „Albert Herring“, Brittens einziges Werk mit dem Zusatz komisch, dafür eines der drei Werke, die als Kammeropern deklariert sind. Das nahm das Theater Lübeck, das immer mal wieder Britten im Programm hatte, zum Anlass, daraus eine Trilogie zu erarbeiten. Pikanter Knackpunkt: Ein Brite sollte das tun. Man holte den erfahrenen Stephen Lawless, der seine Sicht auf Benjamin Britten nun am 10. März 2023 abrundete.

Die Erwartung, dass ein Engländer prädestiniert sei, diese Opern zu inszenieren, erfüllte sich, wirken diese Werke doch alle vom Sujet her „very british“ - und die Charaktere sowieso. Auch im „Albert Herring“ passte alles und sind wieder viele Einzelheiten beachtlich gut gelungen. Dazu gehörte die fleckige Fahne Englands, die Ashley Martin-Davis (Bühne und Kostüme) über die Szenen hängte. Ein spöttischer Touch liegt damit über der alten, traditionsbewussten Lebensweise. In gleicher Art wirkten die Schwarz-Weiß-Filme vor Beginn und zu den Zwischenaktmusiken. Typisches wie maschinelles Teekochen flimmerte von der Leinwand, erinnerte an die Zeit um 1950. Das folgende soziale Geschehen im Städtchen Loxford kam dadurch dem amüsierten Zuschauer noch kennzeichnender vor, wenn er auch das eine oder andere vor eigener Haustür hätte entdecken können.

Jacob Scharfman (Sid), Frederick Jones (Albert Herring)Jacob Scharfman (Sid), Frederick Jones (Albert Herring)

Das Sujet zum „Albert Herring“, in der Chronologie das jüngste Werk, stammt aus Frankreich, wo Albert noch Isidore hieß. Der Name, so geschrieben, ist androgyn, womit die Titelfigur bereits im Original eine geschlechtliche Verortung verweigert. Britten und sein Librettist Eric John Crozier mussten 1947, dem Jahr der Uraufführung, jedoch noch eindeutig sein. Schwul war ungesetzlich. Der unverfängliche Name Albert wurde gewählt, der für einen „strahlenden Edelmann“ steht. Heute ist/sollte das kein Thema sein, folglich klärt Lawless des Titelhelden sexuelle Ausrichtung eindeutig: Alberts Begegnung mit einem Matrosen befreite ihn aus Mutters und jeder weiteren Abhängigkeit.

Während die beiden anderen Kammeropern Novellen von Henry James zur Vorlage haben, ist es hier eine von Guy de Maupassant mit dem Titel „Le Rosier de Madame Husson“ oder deutsch „Der Tugendpreis“. Das festländische Personal aber ist beim Blick über den Kanal unschwer auch auf der Insel zu entdecken, nur knapp, dafür charakteristisch unterschieden. Madame Husson zum Beispiel wird geadelt und zur Lady Billows, die wie im Original „auf außerordentlich gutem Fuße mit dem lieben Gott“ steht und „tiefen, eingeborenen Abscheu vor dem Laster“ empfindet. Sie wird zum allmächtigen und uneingeschränkten Gewissen des Ortes. Nicht viel musste der britische Librettist Eric John Crozier daher ändern, um Loxford zu zeichnen. Ohne abschweifen zu wollen, sei gleich ihr Alter Ego, die Sopranistin Bea Robein, genannt, die die Lady in grandioser Manier und mit kraftvoller Stimme verkörperte. Auch ihr Outfit stimmte, das Tweedsakko (in der Werbung „Die Mutter aller Brit-Looks“), die schlotternden Breeches und militanten Reitstiefeln sowie die Reitgerte immer griffbereit.

Bea Robein (Lady Billows), Julia Grote (Florence Pike), Wolfgang Schwaninger (Mr. Upfold), Andrea Stadel (Miss Wordsworth), Frederick Jones (Albert Herring), Laila Salome Fischer (Nancy Waters), Jacob Scharfman (Sid), Edna Prochnik (Mrs. Herring)Bea Robein (Lady Billows), Julia Grote (Florence Pike), Wolfgang Schwaninger (Mr. Upfold), Andrea Stadel (Miss Wordsworth), Frederick Jones (Albert Herring), Laila Salome Fischer (Nancy Waters), Jacob Scharfman (Sid), Edna Prochnik (Mrs. Herring)

Das Mai-Fest, bei dem eine, sagen wir „würdige“ Königin gekürt werden soll, stand an. Im Voraus eine Unbescholtene zu finden und so die Wahl zu organisieren, ist bei Maupassant dem Dienstmädchen Françoise aufgebürdet. Crozier aber befördert sie zur Haushälterin, die mit Florence Pike wieder einen sprechenden Namen bekommt, schließlich ist es im Original ein Rosenfest. Lawless zeigt in seiner Regie noch Intimeres, nämlich ihre große innere Nähe zur „Chefin“. Köstlich, wie die Darstellerinnen das zur Schau bringen und die Altistin Julia Grote mit Stimme und Spiel das unterschwellig liebevolle Verhältnis ausgestaltet.

Die typischen Honoratioren, von Amts wegen Mitglieder im Festkomitee, sind alle nur Spielbälle der Lady. Höflich nennen wir anfangs die einzige Frau. Miss Wordsworth ist das, die Schulleiterin. Ein Pfarrer, Mr. Gedge hier genannt, muss sein, ebenso wie ein Bürgermeister und der Polizeichef. Wunderbare Rollen sind das. Für Andrea Stadel ist die schrille Erzieherin fast zu einseitig, dennoch ist köstlich, wie sie mit ihren drei „munteren“ Schülern Cis (Valentina Rieks), Emmy (Nataliya Bogdanova) und Harry (Jasper Florens Bartsch) eine groteske Gesangsprobe zelebriert. Den Pfarrer gibt der immer zuverlässige Steffen Kubach in nuanciert sanfter Art. Überwältigend inhaltsschwanger predigt er dies: „Tugend, so sagt die Heilige Schrift, ist Tugend. Überreiche Gnade, wann immer, wo immer, wie immer sie beseht...“ Auch die beiden öffentlichen Ämter, der bramarbasierende Mr. Upfold, Besitzer einer Schlachterei, und Mr. Budd, der unlustig für die äußere Ordnung zuständig ist, sind großartig besetzt. Den ersten gestaltet der Tenor Wolfgang Schwaninger, den anderen der Bass Mario Klein, beides üppige Besetzungen für diese Rollen.

Andrea Stadel (Miss Wordsworth), Mario Klein (Superintendent Budd), Edna Prochnik (Mrs. Herring), Frederick Jones (Albert Herring), Bea Robein (Lady Billows), Julia Grote (Florence Pike), Wolfgang Schwaninger (Mr. Upfold), Steffen Kubach (Mr. Gedge)Andrea Stadel (Miss Wordsworth), Mario Klein (Superintendent Budd), Edna Prochnik (Mrs. Herring), Frederick Jones (Albert Herring), Bea Robein (Lady Billows), Julia Grote (Florence Pike), Wolfgang Schwaninger (Mr. Upfold), Steffen Kubach (Mr. Gedge)

Schwer hat es der Tenor Frederick Jones in der Rolle der Zentralfigur, der vom drangsalierten Muttersöhnchen zu einem selbstbewussten jungen Mann sich mausert. Da nicht zu chargieren gelingt ihm überzeugend. Zu seinem neuen Selbstbewusstsein verhelfen ihm ungewollt Nancy Waters, die Bäckerstochter, und der Metzgerbursche Sid, gesungen und lebhaft gespielt von Laila Salome Fischer und Jacob Scharfman. Beide sind quasi Vertraute von Albert. Nancy hat Mitleid mit ihm, während Sid ihn derb durch Rum ändern will. Schließlich muss auch Mrs. Herring lernen, sich von Albert abzunabeln. Edna Prochnik hat zu ertragen, wenn ihr Sohn ihr vorwirft, ihn „mit Sicherheitsnadeln gefesselt“ zu haben.

Auch der Bühnenbau hält sich an die Vorgabe „Kammer“oper. Kleine Wirkungsräume sind alle, der Sitzungsort anfangs, das Gemüsegeschäftchen der energischen und eigensüchtigen Mrs. Herring, in dem ihr Sohn Albert der ist, der für alles zuständig sein muss. Selbst der „Festplatz“ ist klein und noch mehr die Telefonzelle als der Ort, in der die Intrige Gestalt gewinnt, die Albert verändert.

Britten genügen für die 13 Rollen 12 Instrumente, dennoch klingt seine Musik nicht nur abwechslungsreich, auch den Szenen schmiegsam angepasst. Takahiro Nagasaki, stellvertretender GMD am Theater, meistert das mit den Solisten aus dem Philharmonische Orchester sehr gekonnt.

Dieser „Albert Herring“ bietet musikalisch und optisch ein großes Vergnügen!

Fotos: (c) Olaf Malzahn

 

Arndt Voß
Aufgewachsen in Neumünster, in Lübeck seit 1959. Studium in Kiel und Hamburg (Musik- und Literaturwissenschaft). Ständige Mitarbeit an den Lübeckischen Blättern von 1974 bis 2014, Berichte und Kritiken darüber hinaus in einigen anderen Organen. Schwerpunktthemen: Musiktheater, Schauspiel, Konzerte.

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