Der Erzbischof (Oleksandr Kharlamov) | Der Hirte (Michael Müller-Kasztelan) Roksana, seine Frau (Agnieszka Hauzer) | Roger II., König von Sizilien (Oleksandr Pushniak)

Opernhaus Kiel
Kiel bringt mit Karol Szymanowskis „König Roger“ eine Kostbarkeit

Die Oper Kiel hat sich mit Karol Szymanowskis „König Roger“ eines Werkes angenommen (Premiere 25. Februar 2023), dessen Besonderheit schon darin liegt, dass es kaum gespielt wird. Das hat seine Gründe.

Ein Theater muss in der Lage sein, die Außenseiter- und Ausnahmemusik des in der Ukraine geborenen Polen darstellen zu können, mehr noch muss es einen Regisseur finden, der die Handlung bühnenwirksam aufbereitet, die im Kern ein innerer Konflikt ist. Sie bietet keinen dramatischen Opernstoff, sie ist dagegen kontemplativ, wie für ein Oratorium gemacht, und ist nur insofern sinnlich geprägt, wenn sie eigentümliche mythische Welten zeichnet.

Mit der Musik beschäftigte sich Kiels Philharmonisches Orchester unter Daniel Carlbergs Leitung. Erstaunlich rauschhaft nimmt sie den Zuschauer gefangen. Die vielfältigen stilistischen Anspielungen, die Szymanowski für seine dichte Komposition nutzte, werden plastisch eingefangen und klangvoll umgesetzt. Eine eigene Tonsprache ist es nicht, aber eine von erstaunlicher Buntheit und lebendiger Tiefe. Sie spielt auf vielerlei an, auch in polyphoner Aufsplitterung, bleibt dennoch tonal. Zudem ist der Pole ein ausgesprochener Könner bei der Instrumentation, der im schnellen Wechsel Klerikales neben Arabisches oder Aristokratisches zaubert. Und auch das schafft er: Bei aller oft dramatisch überbordenden Zeichnung lässt er den Stimmen den ihnen nötigen Raum, überdeckt sie nie, so dass sich manches Mal ein rezitativischer Eindruck einstellt. Das gibt den Sängern enormen Gestaltungsraum und gibt der Stimme bei aller instrumentalen Dichte immer den Vorrang.

Edrisi, ein arabischer Gelehrter (David Goldberg)(oben) | Roger II., König von Sizilien (Oleksandr Pushniak) (unten auf Leiter)Edrisi, ein arabischer Gelehrter (David Goldberg)(oben) | Roger II., König von Sizilien (Oleksandr Pushniak) (unten auf Leiter)

Antiphonale Chormusik erklingt gleich anfangs, unterlegt mit tiefen Paukentönen, ein ehrwürdiges Schreiten imitierend. Sie schafft eine eigene Welt, die durchaus leitmotivische Bedeutung erhält und nachdrücklich und dramatisch anderen Sphären begegnet. Das Klangliche lässt assoziativ einen Kirchenraum entstehen, der eine strenge Welt mit seiner theologisch gebundenen Ordnung umhüllt. Sie wird schnell durch Kräfte behelligt, die die Welt der Tradition stören wollen und einen anderen Glaubensansatz bevorzugen. Ihr Repräsentant ist ein Hirte. „Mein Gott ist jung wie ich“, verkündet er und schafft damit den starken Gegensatz zu der alten Ordnung. Zwei Hüter stehen auf der Bewahrerseite, der Erzbischof und die Diakonissin, zunächst auch König Roger II, der König von Sizilien. Dessen Frau Roxane lässt sich schnell von dem neuen, orgiastischen Lebensstil begeistern. Auch der Berater des Königs, der arabische Gelehrte Edrisi, rät dazu.

Aus dieser Anlage im Sujet und aus der mitreißenden Kraft der Musik hätte ein Regisseur treffliche Ideen schöpfen können. Dirk Schmeding allerdings wollte das nicht oder mehr. Er ließ sich von Ralf Käselau eine düstere, nichtssagende Bühnenwelt schaffen, ausstaffiert mit Utensilien, die das Plüschige der Jahre davor zitieren. Ein Stoff im Muster und in den Farben der 60iger Jahre bedeckt alles, die orthodoxe Kirchenwelt im ersten Akt, die königliche Sphäre im zweiten und die Wildnis des dritten Aktes. Das mischt sich zu einem nichtssagenden Allerlei, in dem ein Polaroidfoto angehimmelt wird, Neonröhren mit ihrem kalten Licht die Bühnenwelt gliedern und riesige Reifen auf den kosmischen Überbau anspielen. Sie hängen in der Art von Sternkreisen mobileartig vom Bühnenhimmel herab, an denen in Größe und Form als Sterne nicht nur unterschiedliche Glühbirnen fixiert sind.

Roger II., König von Sizilien (Oleksandr Pushniak) Opernchor des Theaters KielRoger II., König von Sizilien (Oleksandr Pushniak) Opernchor des Theaters Kiel

Daneben prangt der Lampenschirm aus Omas Stehlampenerbe neben Laternen, mondgesichtige wie pagodenhafte. Nach Weihnachten noch nicht verpackt sind Herrnhuter Sterne, die neben Überresten einer Lichterkette und einem großen „R“ das Universum erleuchten. Dieser Buchstabe glänzt gülden und soll wohl der königliche Initialbuchstabe sowohl von Roger als auch von Roxane sein, seiner Frau Gemahlin. Immer wieder schweben die Lichterkränze herab, gewinnen leitmotivische Bedeutung, bis am Schluss Roger eine der simplen Glühbirnen herausdreht. „Und meiner tiefen Einsamkeit, dem Abgrund meiner Macht entreiß‘ ich mein reines Herz und bring’s als Opfer dar der Sonne“, sind in die Ich-Form Rogers Schlussworte, mitgeteilt im Programmheft.

Die Kostüme von Pascal Seibicke sind ähnlich diffus, so dass der Besucher auch darin die Regieabsicht erkennen muss, nichts aussagen zu wollen. Der Sänger von Roger ist Oleksandr Pushniak. Sein kraftvoller Bariton vermag alles zu übertönen, obwohl er den König sehr gebrochen spielen muss. Ein schwarzer Anzug und zeitweilig die Krone genügen, ihn in seiner existentiellen Unzufriedenheit zu charakterisieren, auch in der Szene, in der eine Gruppe von Bacchantinnen ihn sehr unsinnlich umschwirrt.

Roger II., König von Sizilien (Oleksandr Pushniak) | Roksana, seine Frau (Agnieszka Hauzer) | StatisterieRoger II., König von Sizilien (Oleksandr Pushniak) | Roksana, seine Frau (Agnieszka Hauzer) | Statisterie

Seine Frau Roxane, gesungen luxuriös von Kiels dramatischem Sopran Agnieszka Hauzer, ist zunächst schwarz gekleidet. Weiße Akzente lassen sie seriös und einigermaßen vornehm wirken. Dann aber erscheint sie in einem ledernen Bustier und mit nackten Beinen in Lederstiefeln. Das aber ist so penetrant wie bieder, macht sie zu einer schrägen „Dame“, nicht aber zu einer Bacchantin oder gar einer Mänade, wie sie Szymanowski und sein Librettist Jarosław Iwaskiewicz gestalten wollten. Sie hatten Euripides im Sinn. Ihrem schönen Solo im 2. Akt zuzuhören, wäre ratsam gewesen und Salomes Schleiertanz im Kopf zu haben ebenso.

Ein Vertrauter des Königs ist der arabische Gelehrte Edrisi, die einzig historische Figur. Sein Sänger, der junge Tenor David Goldberg, hat es schwer, weil er aus dem Hintergrund agieren muss. Der Erzbischof, mit großer Stimme singt ihn Oleksandr Kharlamov, tritt zunächst in einem übergroßen, silberglänzenden Ornat auf, die Hüften androgyn betont. Schon beim nächsten Auftritt sitzt er im Rollstuhl, betreut von der Diakonissin. Dirk Schmeding wird in Berichten zu anderen Inszenierungen nachgesagt, dass er seine Schauspieler gern zur Zigarette greifen lässt. Hier muss die stimmlich immer versierte Tatia Jibladze zum Glimmstängel greifen, um sich von der Erzbischöflichen (Ohn-)Macht abzusetzen. Die Gegenwelt bildet der Hirt. Nach dem Willen der Librettisten wird er zum Schluss zu Dionysos. Nicht einmal andeutungsweise ist das in Kiel zu erleben. Gesungen wird er von Michael Müller-Kasztelan, einem versierten Tenor aus dem Ensemble. „I follow you“ als Parole auf dem T-Shirt und auf dem Blaumann ein paar Aufkleber mit Botschaften, aus dem Zuschauerraum nicht lesbar, ernennen ihn zum Führer in ein neues Lebensmuster. Das kann nicht gelingen, auch deshalb nicht, weil alles Sinnliche von der Bühne verbannt ist. Soll das etwa der innere Sinn für den Auftritt eines Statisten mit einem Staubsauger sein? Soll er vermeiden, dass irgendetwas Staub aufwirbeln könnte?

Roger II., König von Sizilien (Oleksandr Pushniak) | Der Hirte (Michael Müller-Kasztelan) Roksana, seine Frau (Agnieszka Hauzer)Roger II., König von Sizilien (Oleksandr Pushniak) | Der Hirte (Michael Müller-Kasztelan) Roksana, seine Frau (Agnieszka Hauzer)

Neben dem Orchester hat auch der Chor, durch einen Extra- und Kinder- und Jugendchor verstärkt, an der großartigen musikalischen Leistung des Theaters einen hohen Anteil. Gerard Krammer hatte ihn einstudiert. Er wird nicht dafür verantwortlich sein, dass seine Sänger am Ende des ersten Aktes in einer langen, zudem nichtssagenden Szene in fein abgestimmter Choreografie Stühle zu transportieren hatten. Er wird auch nicht dafür verantwortlich sein, dass alle Chorsänger vom Geschlecht her nicht identifizierbar waren. Sie steckten in schwarzen Umhängen, hatten graue Glatzen und Schutzbrillen, wie die Schweißer sie tragen, vor den Augen. Ob das die Kostümabteilung gefreut hat, soll nicht ermittelt werden.

Die Kieler Einstudierung wirkte durchaus zwiespältig. Die vokale wie instrumentale Musik voller Finesse und grandioser Farben nahm gefangen. Die Bühnenpräsentation ließ dagegen nur ein Kopfschütteln zu.

Foto: (c) Olaf Struck

Arndt Voß
Aufgewachsen in Neumünster, in Lübeck seit 1959. Studium in Kiel und Hamburg (Musik- und Literaturwissenschaft). Ständige Mitarbeit an den Lübeckischen Blättern von 1974 bis 2014, Berichte und Kritiken darüber hinaus in einigen anderen Organen. Schwerpunktthemen: Musiktheater, Schauspiel, Konzerte.

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