Cornelia Zink (Duchess), Foto: (c) Silke Winkler

Thomas Adès Kammeroper „Powder Her Face“ in Schwerin
Liebesleid und Liebesfreud einer Duchess

Nach Wagners „Tannhäuser“ vor nur wenigen Wochen war Thomas Adès‘ „Powder Her Face“ das zweite Schweriner Opernprojekt, und es war wieder eine Regiearbeit von Martin G. Berger. Seit der letzten Spielzeit ist er Operndirektor am Mecklenburgischen Staatstheater und hatte bereits mit seiner Version von Ligetis „Le Grand Macabre“ vor fast genau einem Jahr eine Neigung zu eigenwilliger Szene(n)arbeit durchblicken lassen.

So konträr die Folge der Werke von Ligeti, Wagner und Adès zunächst anmutet, hat Berger in ihr doch einen roten Faden entdeckt, mit dem er seine Inszenierungen knallig bunt zusammenstrickte. Er fand und akzentuierte bei allen sexuelle Ausschweifung. Im „Grand Macabre“ war es nicht schwer. Ligeti geht sie mit Neigung zur Zote an, was die Regie nur noch zuzuspitzen braucht. Allerdings waren nur einem Teil seines diversen Personals sexuelle Spielchen ermöglicht, wenn, dann unterstützt durch die göttliche Venus, die hier als (brust)haarige Erscheinung mitmischte. Anders war es in Wagners Frühwerk, dem „Tannhäuser“, den Berger im Vorschauheft einen „150 Jahre alten Klopper“ nennt. (NB: Hätte er die erste Version in Dresden bedacht, wäre die Zeitspanne noch um 27 Jahre, um mehr als ein Vierteljahrhundert, zu erweitern) Der Leipziger Opernhüne widmete der Lust, damals ungewöhnlich, im und am Venushügel schon einen ganzen „Akt“ - ein Homonym, das hier unvermeidbar seinen Doppelsinn anbietet. Jedenfalls ist seine Venus allein für das Amouröse zuständig. Berger war das wohl zu normal, und er legte ihr einen queeren Ritter ins Lotterbett, eine Drag-Queen.

Morgan Heyse (Maid), Foto: (c) Silke WinklerMorgan Heyse (Maid), Foto: (c) Silke Winkler

Die dritte und jüngste Oper übertrumpft alles. In Adès zweistündigem Bühnenstück, 1995 uraufgeführt, wird praller Sex zum Grundthema. Dafür sorgt nun eine Sterbliche, aber immerhin eine Frau von Stand, eine Duchess. Thomas Adès, 1971 in London geboren, und sein wenig älterer Landsmann und Librettist Philip Hesher schildern ihre Protagonistin als sehr frei und agil, zumindest wenig standesbewusst, positiv gewendet als demokratisch. Sie nahm alles und jeden, dessen sie habhaft werden konnte, ohne Rücksicht auf die soziale Stellung: Handwerker, Hotelpersonal oder –manager, wohl zunächst auch ihren herzoglichen Gemahl. Von 88 „Eroberungen“ berichtet ihr historisches Vorbild in ihren Memoiren, weshalb sie schon mal in eine Reihe mit Don Giovanni gestellt wurde.

Sie ist eine Frau, die in zweiter Ehe einen Duke heiratete, der sie zur Duchess of Argyll machte. Er ehelichte vor allem ihr Vermögen, ein Grund vielleicht, weshalb es zur Scheidung kam. Die erfolgte im Jahre 1963 in einem langen Prozess, in dem auch die Namen etlicher honetter Herren aus Welt-und Geldadel zur Sprache kamen. Pikante Fotos und ihr freizügiges Schreiben, das als eine andere Art Register oder Leporello zu lesen war, lieferten den Stoff, der aber in der Oper frei abgewandelt wurde. Auf jeden Fall war ihre Vita, vor allem die drei Jahrzehnte bis zu ihrem Ende im Jahr 1993, zur Skandalgeschichte geworden, ein begehrtes Objekt der Klatschpresse, nicht unähnlich dem, was Mythen und Vasenbilder der Göttlichen Hellenistin nachsagten.

Sebastian Köppl, Foto: (c) Silke WinklerSebastian Köppl, Foto: (c) Silke Winkler

Die Assoziation, dass die Duchess in Bergers Deutung etwas von einer Venus habe, entsteht bereits im Vorspiel - oder sagen wir unverfänglicher im Prolog. Da wird schon lange vor dem ersten Ton der Musik heftig agiert. Die 15 Musiker des farbigen Klangapparates, der Akkordeon, verschiedenste Blasinstrumente, ein paar Streicher, Klavier und Schlagzeuge aufweist, haben noch Zeit, sich zunächst optisch einstimmen zu lassen. Sie sitzen nämlich inmitten des Geschehens, das auf einem um sie herumlaufenden Podest stattfindet. Das kleine Spielareal genügt dank geschickter Nutzung, handelt es sich doch um die Szenerie einer Kammeroper, die Berger sich wie die seiner anderen Inszenierungen von Sarah-Katharina Karl bauen ließ. Alle Beteiligten werden gewusst haben, dass solch ein Spiel mit Intimitäten wenig für das Große Haus geeignet ist, auch das, dass ein Vorteil darin liegt, die Musiker nicht im Graben verschwinden zu lassen. Beide, Handlung und Musik, sind so enger zu verbinden. Aktuell kommt hinzu, dass mit dieser Oper musikalisch eine neue Spielstätte eingeweiht wurde, die das Mecklenburgische Staatstheater in der Druckerei eines eingegangenen Zeitungsbetriebs gefunden hat. Der hohe Raum bietet bis zu 150 Zuschauern Platz und auf der ansteigenden Tribüne eine große Nähe zum Geschehen.

Geschickt teilt das Libretto die intime Lebens- und Liebesgeschichte in zwei Teile. Im ersten lernt man die Protagonistin zunächst in einem Hotel kennen, in dem sie eine Suite bewohnt. Dann wird ihr Leben in Rückblicken nachvollzogen, die bis ins Jahr 1934 zurückreichen, bis zu ihrem Debut in Londons High Society. Weitere Stationen sind ihre Hochzeit im Jahre 1936 und die Scheidung 1963. Akt II berichtet vom Prozess 1956, dann über ein letztes Interview 1970 und kehrt schließlich an den Anfangsort zurück, bis zum entwürdigenden Rausschmiss. Ein Lebensbogen von 56 Jahren ist darzustellen, den die, die diese körperlich wie stimmlich exaltierte Rolle übernimmt, auch optisch einigermaßen glaubhaft durchstehen muss. Etwas entgegenkommend ist ein cleverer Einfall im Libretto. In der vorletzten Szene obliegt es da einer Journalistin, der Herzogin ihr Geheimnis für Schönheitstricks abzuringen. Drei seien genannt: Nie zu Fuß gehen! Nie sich Sorgen machen! Mit kaltem Wasser sich waschen! So hält man sich über Jahre fit.

Sebastian Köppl, Cornelia Zink, Bart Driessen, Morgane Heyse, Foto: (c) Silke WinklerSebastian Köppl, Cornelia Zink, Bart Driessen, Morgane Heyse, Foto: (c) Silke Winkler

Gleich zu Beginn der Oper lässt Berger alle vier Mitwirkenden auftreten, noch ohne Musik. Die zwei weiblichen und zwei männlichen Figuren, alle mit silberweißer Perücke, stecken in leichten Bade- oder Morgenmänteln in Altrosa (Kostüme: Alexander Djurkov Hotter). Sie verdecken notdürftig, dass darunter nur schwarze Reizwäsche nackte Haut bedeckt. (Der Anblick lässt selbst die Zuschauer frösteln, denn der zugige Druckmaschinenraum darf wegen der Energiekrise nur auf gerade mal 19 Grad erwärmt werden.) Sie halten Schüsseln mit Wasser in Händen, das Element der Venus ebenso wie das der hinduistischen Göttin Lakshmi, die gleichfalls für Glück, Liebe oder Fruchtbarkeit zuständig ist. Sie wird später noch einmal mehrarmig und –köpfig, gewärmt durch einen schmeichelnden Pelzumhang, in einem gestellten Bild zitiert. Zunächst wird allerdings eine Art rituelle Waschung vollzogen, bevor in allen Paarungen, die ein Quartett ermöglicht, die Liebeskunst genossen wird. Sie wies kaum Unterschiede auf zwischen dem, was im Kamasutra, den Versen des Verlangens, beschrieben wird, und dem, was in Europa üblich ist. Zeitweise kann das allerdings nur an den Bewegungen abgelesen werden, denn ein Tuch verdeckt ab und zu das Treiben züchtig. Es stimmt den Zuschauer dennoch auf das ein, was im weiteren Verlauf sich immer wieder ereignet, wenn die Musik einsetzt. Das korrespondiert zeitweise wenig mit dem Bühnengeschehen, erzeugt auf Dauer sogar leichte Langeweile. Es bestätigt allenfalls, was in Ankündigungen versprochen wird, dass dieses das erste Opus sei, in dem Fellatio zur Bühnenhandlung gehöre.

Cornelia Zink, Bart Driessen, Foto: (c) Silke WinklerCornelia Zink, Bart Driessen, Foto: (c) Silke Winkler

Man ist als Zuschauer nicht immer glücklich. Was fehlt, ist im ersten Akt die Duchess in ihrem Seelenleben zu erfassen. Da bietet der zweite Akt bessere Momente. Selbst eine Szene wie die im Gericht, bei der sie kaum etwas spricht, gibt ihr Würde. In den Schlussszenen glaubt man ihr dann ihre Verzweiflung über das Schicksal, das sie eingeholt hat. Andere Szenen sind gut aufgebaut. Dazu gehört die im Gericht. Dort wird in den Kopf eines riesigen Hampelmanns das Gesicht des Richters hineinprojiziert. Das ist ebenso gelungen, wie die vielen Momente es sind, in der eine Badewanne zu einem deutlichen Verweis auf Venus, auf die „Meerschaumgeborene“, wird.

Mittelpunkt sind jedoch zwei burlesk inszenierte Szenen, die gleichzeitig gesellschaftskritischem Anspruch nachkommen sollen, es sogar können. Vor der Pause erfährt der herzogliche Gemahl beim gründlich verpatzten Liebesspiel mit seiner Gespielin ausgerechnet von ihr, dass auch seine Ehefrau ein ausschweifendes Liebesleben pflegt. Helle Empörung überwältigt ihn, was für die erste Sozialthese Beleg sein kann: Männer dürfen, was sie ihren Frauen verwehren. Nach der Pause wird in der grotesk überzeichneten Gerichtsszene das Scheidungsurteil präsentiert. Die anwesenden Klatschreporter tragen Affenmasken (warum? Ist Sex tierisch?) und quittieren des Richters scheinheilige Ausführungen mit trefflichem Gekreisch, während die Duchess dessen scheinheiliges Gerede ungerührt aufnimmt und es am Schluss mit „I don’t care“ kommentiert, bevor sie aufrecht davonschreitet. Hieraus kann Kritik zwei abgeleitet werden: Nur eine starke, emanzipierte Frau lebt „ihren Körper, ihre Sexualität, ihren Umgang mit Menschen frei“. Das ist ein Zitat aus dem einzigen Wortbeitrag auf einem Faltblatt, das dem Besucher als Quasi-Programmheft in die Hand gedrückt wird, das also die Absicht der Regie wiedergeben dürfte. Gewährsmann ist der Dramaturg Linus Lutz, der mit Cornelia Zink sprach, der Darstellerin der Duchess, und nach ihrem Rollenverständnis fragte, einem, das die Regie vorbestimmt, zumindest gebilligt haben dürfte. Da aber das ganze Spiel gnadenlos und bizarr verzerrt ist, wohl um allen Peinlichkeiten der Sexszenen zu entkommen, dringen diese Weisheiten kaum durch.

Morgan Heyse, Foto: (c) Silke WinklerMorgan Heyse, Foto: (c) Silke Winkler

Cornelia Zink ist also eine der vier Handelnden, zugleich die einzige, die nur einen Charakter zu verkörpern hat. Das löst sie in den vielen Altersstufen spielerisch und stimmlich sehr überzeugend ein. Die zweite Sopranistin ist Morgane Heyse, zuständig für vielerlei und deshalb darstellerisch grandios gefordert. Sie ist Zimmermädchen und Gespielin zunächst des Elektrikers, dann des Dukes, sie ist weiterhin Kellnerin, Vertraute, Zeitungsäffchen bei Gericht und Gesellschaftsjournalistin. Es mag noch mehr sein. Ihre Stimme bewältigt die Koloraturen und Sprünge erstaunlich sicher, zugleich klangschön. Die Männerstimmen entsprechen dem hohen Niveau der Damen. Der Tenor Sebastian Köppl als Elektriker und Salonlöwe, als Kellner, als männlicher Zeitungsaffe oder als Hotelpage komplettiert zudem das Trio der hauseigenen Sänger, während der Bass der einzige Gast ist. Er hatte aber bereits mit Morgane Heyse in einer Fassung mitgewirkt, die Berger 2019 im Kasino der Volksoper Wien aufgeführt hatte und jetzt an seiner neuen Wirkstätte aufwärmte. Diese Bassrolle fordert eine klangvolle Stimme in allen Bereichen und mit großen Ambitus. Sehr sicher überstand er alles. Gerade sein Einsatz in zwei Szenen nacheinander ist ein geschickter Clou des Komponisten. Vor der Pause mimt er den angetrunkenen, zum Sex mit seiner Gspusi nicht mehr fähigen Duke und gleich danach ist er der bigotte Richter. Das hat Witz.

Die musikalische Leitung liegt bei dem neuen 1. Kapellmeister Levente Török. Er und das sensible Orchester können nicht verhindern, dass im ersten Akt Musik und Handlung nicht recht zusammenpassen. Adès komponierte sehr feinsinng etliche Anspielungen hinein, etwa die an eine schummrige Tangokneipe oder die von Broadway-Hits. Das setzt sich auf der Szene assoziativ nicht durch. Besser wird es wieder im zweiten Akt, wenn dort Walzeranklänge erklingen oder der sensiblen Duchess Musik aus dem Rosenkavalier ins Herz träufelt. Auch der ihren Rauswurf begleitende Anklang an einen Marche funèbre gehört dazu.

Morgane Heyse, Foto: (c) Silke WinklerMorgane Heyse, Foto: (c) Silke Winkler

Fazit
Berger hat eine Inszenierung erarbeitet, die in vielem überzeugt, manches aber doch zu achtlos behandelt. Das liegt vor allem an dem überbordenden Spiel im Prolog, auf das zum Schluss zurückgeführt wird, aber zu sehr die Gesamtrichtung bestimmt.

Weitere Vorstellungen: 8. und 12. Dezember 2022 jeweils 19.30 Uhr in der M*Halle

Arndt Voß
Aufgewachsen in Neumünster, in Lübeck seit 1959. Studium in Kiel und Hamburg (Musik- und Literaturwissenschaft). Ständige Mitarbeit an den Lübeckischen Blättern von 1974 bis 2014, Berichte und Kritiken darüber hinaus in einigen anderen Organen. Schwerpunktthemen: Musiktheater, Schauspiel, Konzerte.

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