Morgane Heyse (Aktivistin) und Markus Sung-Keun Park (Weltenwechsler)

Mecklenburgisches Staatstheater
Das Problem mit den Wölfen – Schwerin versucht es mit einer Naturoper zu lösen

Haben Sie schon einmal einen Wolf gesehen, nicht im Zoo, nein, so ganz in freier Wildbahn? Wohl kaum einer hat das. Scheu soll er sein und argwöhnisch, selten allein und mit seinen scharfen Zähnen gefährlich.

Sie führen dazu, dass über seine Daseinsberechtigung heftig diskutiert wird, allerdings in Stadt und Land anders: Ist er zu jagen und zu vertreiben, ist er zu dulden und zu schützen, ist er ein Untier, das vor allem Huftiere, manchmal auch anderes reißt, oder ist er ein Tier, das – wie der Mensch – nur seinen Trieben folgt, nicht böse, nicht gut, eben einfach nur seiner Natur folgend? Ausgerottet schien er, aber seit 2000 ist er wieder da. Laut NABU sind es 15 Rudel in Mecklenburg, in Brandenburg mehr als dreimal so viele, in Schleswig-Holstein gar keines. Allenfalls 10 Totfunde auf der Straße zählt man hier, in 21 Jahren bis Ende 2021. Das Mecklenburgische Staatstheater hat jetzt die vielfältigen Aspekte und Fragen um das Problem „Wolf“ aufgegriffen und in eine „Naturoper“ umgewandelt. Sie wurde am 24. Juni 2022 uraufgeführt. Hier werden die Eindrücke der zweiten Aufführung wiedergegeben.

Cornelia Zink (Schäferin) und EnsembleCornelia Zink (Schäferin) und Ensemble

Der Aufwand ist groß. Bereits vor dem Schweriner Theater empfängt eine Schafsherde den Besucher. Sie weidet auf einer Rasenfläche in Form eines M, der Form des Logos, mit dem das Mecklenburger Theater alle seine Aktivitäten kennzeichnet. Am Rande mahnt schüchtern ein kleines Plakat „Wir sind kein Wolfsfutter“, später auch auf der Bühne. Drinnen ist das Parterre zu einer grünen Freifläche geworden, darauf einfache Sitzgelegenheiten. Einige Zuschauer dort haben sich leger gekleidet oder in naturhaften Lodenstoffen, andere mit Rucksäcken wie zu einem Marsch in den Lebensraum der grauen Eminenzen vorbereitet. Schon das zeigt: diese wilden Tiere sitzen tief in unserem Unterbewusstsein, pendeln zwischen Kultur und Natur.

Schon im Alten Testament sind sie Gleichnis für das Böse, für den Satan und stehen dem guten Hirten gegenüber, der Gott und den friedlichen Schafen dient. Auf dem Vorhang verdichten schon vorweg Fotos die Problematik. Über ihnen ist zu lesen, dass Wölfe vor allem besser riechen können, besser hören, auch besser sehen. Besser als wer? Ein Vergleichsobjekt ist nicht genannt. Ist es der Mensch oder nur das Schaf, an dem der Besucher beim Eintreten ins Theater vorbeigeht? Kennt man sie, ließe sich auch zu Aesops Fabel „Das Lamm und der Wolf“ oder zu dem Grimm’schen „Rotkäppchen“ eine Verbindung ziehen. Das folgt später fast zwingend, wo es verschiedentlich als Motiv genutzt wird.

Morgane Heyse (Aktivistin)Morgane Heyse (Aktivistin)

‚Dokumentarische Naturoper‘ nennt sich das Unterfangen, eine Uraufführung, die Bestandteil der in diesem Jahr sehr vielseitigen Schlossfestspiele ist. „Wölfe“ ist vom Theater selbst beauftragt und von der Musikstiftung des Hamburgers Ernst von Siemers finanziert. Das Konzept mitsamt dem Libretto schuf die Hausregisseurin Nina Gühlstorff. Ihre Gespräche mit vielen Menschen, darunter Schafzüchter, Jäger, Naturschützer, Biologen oder Politiker, wurde ihr Material, das sie nach einem knappen Anfangsteil, in dem der Chor den Bezug zum Lande Mecklenburg herstellt, in vielen Positionen aufbereitet.

Mit der Musik war die estnische Komponistin Helena Tulve, geboren 1972, beauftragt. Ihr Stil passt sich vielgestaltig den stark emotionalen Aussagen an und verdichtet sie in expressiver oder kontemplativer Art. Die Klangfarben bezieht sie aus dem gesamten Instrumentarium von den geheimnisvoll wie bedrohlich grummelnden tiefen Streichern des Anfangs über perkussive Phasen bis hin zu Assoziationen zu kirchlich Sakralem oder Mythischem. Diese Art der Komposition verdeckt geschickt den Charakter des Werkes als Kantate, die das additive Prinzip des Textes nahelegt.

Marius Pallesen (Politiker), Nicholas Isherwood (Lonely Wolf), Morgane Heyse (Aktivistin), Martin Gerke (Politiker) und Itziar Lesaka (Forscherin)Marius Pallesen (Politiker), Nicholas Isherwood (Lonely Wolf), Morgane Heyse (Aktivistin), Martin Gerke (Politiker) und Itziar Lesaka (Forscherin)

Eine Brücke über den Orchestergraben hinweg (Ausstattung: Marouscha Levy) verbindet das Parkett mit der Bühne. Später werden die dort Sitzenden aufgefordert, die Seite zu wechseln und sich eine neue „Perspektive“ aus Bühnensicht zu erwerben. Dort sitzen sie auf einer hohen Bühnenbrücke, blicken etwas von oben herab auf das Tun unten, das sich in und vor einer roten Tannenkulisse abspielt. An dem Geschehen beteiligen sich sechs Sänger des Ensembles und ein sehr bassiger Gast, der beeindruckende Nichólas Isherwood, selbst Komponist. Er gestaltet den Lonely Wolf, einen Naturburschen, der mit den Wölfen lebt.

Eine Aktivistin tritt auf (mitreißend Morgane Heyse), die sich vehement für das Naturrecht der Wölfe einsetzt. Eine Schäferin und eine Biologin (Cornelia Zink und Itziar Lesaka, beide stimmlich ausdrucksstark und authentisch im Spiel) vertreten verständlich andere Positionen, ebenso natürlich der Jäger (Martin Gerke mit fester Stimme) und der eitle, enge Politiker (Marius Pallesen), der alles in Verordnung und Gesetz presst. Ein Weltenwechsler (Markus Sung-Keun Park mit gekonntem Hin und Her zwischen Bruststimme und Falsett) öffnet den Weg zu der in Schamanenwelt oder in der Mythologie anderen Sicht auf den Wolf, der dem Menschen in seiner domestizierten Form zum liebsten und treuesten Gefährten geworden ist, in der auch im Wolf der „Schäfer des Waldes“ gesehen wird. Er ist der zentrale Inhalt des letzten, des naturmagischen Teiles, der auch musikalisch sich suggestiv steigert.

EnsembleEnsemble

Helena Tulve gibt, für ihre Herkunft aus dem gesanglich starken Baltikum kennzeichnend, den Stimmen große Partien, vor allem dem Opernchor und auch dem Kinderchor. Die Regie führt beide durch das ganze Haus, wobei dem Chor auch schauspielerisch ein starkes Gewicht zufällt. Die Kinder stecken in roten Wachsmänteln und bekennen sich in ihrem Unisono zur Vorsicht dem bösen Wolf gegenüber. Die Mecklenburgische Staatskapelle, erstmals unter der Leitung von Eckhard Stier, hat in ihm einen Dirigenten, der neuen Klangfarben gegenüber sehr aufgeschlossenen ist und das musikalisch vielfältige Geschehen unter guter Kontrolle hat.

Im Gebet an den Vater des Waldes heißt es am Schluss: „… bitte verschone die Lämmer!“. Wölfe stimmen ein raumfüllendes Geheul an. Das zu deuten, sei jeder selbst aufgefordert.

Arndt Voß
Aufgewachsen in Neumünster, in Lübeck seit 1959. Studium in Kiel und Hamburg (Musik- und Literaturwissenschaft). Ständige Mitarbeit an den Lübeckischen Blättern von 1974 bis 2014, Berichte und Kritiken darüber hinaus in einigen anderen Organen. Schwerpunktthemen: Musiktheater, Schauspiel, Konzerte.

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