Milena Juhl (Bagheera)

Theater Lübeck
Giovanni Sollimas „Dschungelbuch“ als Comic-Oper im Großen Haus

Das Lübecker Theater hat Exotisches zu bieten: ein Dschungel-Camp mit Operngesang, auch zu deuten als Sumpfwald-Circus, der einen Menschen als den Seltsamsten der Affen präsentiert.

Es ist Mogli. Wer kennt ihn nicht, den Waisenknaben im Dschungel, der unter Wölfen aufwächst? Einige Versionen, Episoden aus seinem Leben sichtbar zu machen, gibt es schon, aber noch keine als Comic-Oper. Kunstgemäß muss dergleichen mit einer Ouvertüre beginnen. Sie wird hier von einem rasanten Affen-Show-Orchester geboten, mit Krokodil und Schildkröte als Drum-Set, Rhabarberstängel als Flöten, Insekten als Streichinstrument und Kelchblüten zum Trompeten. Selbstverständlich tritt das Ensemble in großer Formation auf. Da ihre Mitglieder als Herdenwesen gelten, ist alles chorisch besetzt. Der Comicfilmer Joshua Held hat das mit dem Zeichen- und Farbstift eingefangen und dazu eine neue Spezies von Affen generiert, die als Rotfell-Makaken zu kategorisieren wären. Dennoch hatte die Kostümbildnerin Luca dall‘Alpi keine große Mühe mit rotem Stoff, weil nur zwei dieser munteren Akteure die Filmwelt verließen, um Seilakrobatik zu zeigen.

Nataliya Bogdanova (Mowgli)Nataliya Bogdanova (Mowgli) 

Anders aber war es bei den anderen Figuren, die gleichzeitig und im pointierten Miteinander vor der Comic-Welt agieren. Sie mussten nach Konzeption und Libretto, beides von Pier Francesco Maestrini, gleich doppelt eingekleidet werden. Einmal waren sie als Sänger theatralisch zu kostümieren. Zum anderen, eine zusätzliche, sehr fordernde Aufgabe, waren sie Puppenspieler, die mannshohe, bewegliche Figuren vor sich her tragen. Es sind die Wesen, denen sie ihre Stimme zu leihen hatten, eben die, die in Rudyard Kiplings „Dschungelbuch“ zu finden sind. Einige Motive aus diesem heute etwas verdrängten Kinder- oder Jugendbuch hat Serena Guidobaldi neu zu einem Szenario verbunden.

Mogli, das einzige menschliche Wesen, ist natürlich dabei und sein stärkster Feind, der Tiger Shir Khan. Als Freunde und Beschützer finden sich der gemütliche Bär Balu, daneben der Panther Baghira, der Mogli einst rettete, sich deshalb immer noch für ihn verantwortlich fühlt. Auch Akela, der Leitwolf des Rudels, bei dem Mogli aufwuchs, ist dabei sowie die Schlange Kaa, hypnotisch begabt. Der Affenkönig heißt hier Gurilla und liefert das wichtige Handlungsmotiv, das Feuer. Denn Dramatik entsteht vor allem dadurch, dass Mogli von den Affen entführt wird. Sie wollen ihm das Geheimnis entlocken, wie Menschen das Feuer beherrschen.

Caroline Klein (Makake), Nataliya Bogdanova (Mowgli), Laurence Kalaidjian (Gurilla), Clara Brauer (Makake)Caroline Klein (Makake), Nataliya Bogdanova (Mowgli), Laurence Kalaidjian (Gurilla), Clara Brauer (Makake) 

Es entsteht ein quirliges Hin und Her, wofür Giovanni Sollima, italienischer Cellist und Tonsetzer, eine so kunstvolle wie eingängige Musik geschrieben hat. Er nutzt vor allem die einprägsamen Möglichkeiten der Minimal-Musik mit ihren sich nur wenig verändernden Wiederholungs-Strukturen. Harmonik und Arrangement verstärken dabei die perkussiven Effekte. Selbst das Vokale wird dem unterworfen, das trotzdem auf anderes anspielt, etwa auf die Titelmelodie von „Pink Panther“, auf Jazziges oder Alpengejodel, auf Marsch-, Tanz- oder schlangenbeschwörende Zirkusmusik.

Zirkus ist zudem ein zentrales Element, prägt vieles, sogar den Handlungsablauf, weil die Szenen für sich stehen, sich additiv wie in einer Zirkusvorstellung reihen, manchmal etwas sprunghaft. So gibt es doch ein paar Fragen wissensbegieriger Kinder zwischendurch, wer wie und wo und was gerade macht. Ferner taucht einige Male ein Transparent im Palmengeäst auf, das auf „Circus“ verweist. Artistik ist mit den zwei Seil- oder Lianen-Akrobaten zudem trefflich eingebaut, noch mehr bei den gewagten Sprüngen der Tiere.

Christoph Schweizer (Baloo), Nataliya Bogdanova (Mowgli), Milena Juhl (Bagheera)Christoph Schweizer (Baloo), Nataliya Bogdanova (Mowgli), Milena Juhl (Bagheera)

Das Theater Lübeck verkauft diese Inszenierung als Kinder-Oper, bezeichnet sie familientauglich für Kinder ab sechs Jahren. Ist sie auch, auch wenn einige Motive munter durcheinanderpurzeln, zumal die deutsche Übersetzung nicht immer geschmeidig klingt. Dennoch gibt es viel zu lachen, nicht nur wegen der Comics. Wenig kommt in dieser Version der psychologische Entwicklungsgedanke heraus, weil Moglis Freundin fehlt, dazu der Bezug zu den Elefanten. Eher steht Macht und Beherrschung im Vordergrund und der Grund, wozu Gurilla das Feuer benötigt, kann nur erahnt werden. Neidet er es, weil ihm der Mensch der Seltsamste der Affen ist? Oder will er seine Müllstadt abbrennen, um das Umwelt-Problem zu lösen? Wie menschlich!

Man muss sich entscheiden, was man bei Kipling ausleiht, will man bei einer Dauer von einer Stunde bleiben. Die Konzentrationsfähigkeit soll schließlich nicht überlastet werden. Zudem bannt die Musik und ist die Bildgewalt der riesigen Comics groß. Die Wangen der jungen Zuschauenden leuchten rot, der Farbe nicht nur der Makaken und des Feuers, auch die der inneren Begeisterung. Im langen Schlussapplaus war zu erkennen, dass sie auch den starken Leistungen der Akteure galt, den jungen Stimmen aus dem Lübecker Opernstudio.

Christoph Schweizer (Baloo), Noah Schaul (Kaa)Christoph Schweizer (Baloo), Noah Schaul (Kaa)

Nataliya Bogdanova gehört dazu. Ihre wahrlich fordernde Partie als Mogli verlangt hohe Stimmartistik. Wie sie mühelos jede Hürde nahm, begeisterte. Milena Juhls warmer Mezzo macht ihren schwarzen Panther richtig sympathisch wie Andreas Lettowskys warme Stimme den immer hungrigen Balu. Auch die beiden anderen Baritone passten ihren Stimmklang wunderbar dem Charakter ihrer Gestalten an, Beomseok Choi dem des fiesen Shir Khan und Laurence Kalaidjian dem des hinterhältigen Gurillas. Noah Schaul mit seinem jugendlichen und frischen Tenor spielte gleich zwei Figuren, den wankelmütigen Rudelführer Akela und die listigen Schlange Kaa.

Paul Willot-Förster sollte dirigieren, Lübecks Zweiter Konzertmeister. Er erkrankte. Kurzfristig sprang Sergi Roca Bru ein, der das Stück bereits in Kiel dirigiert hatte und das Lübecker Orchester zu einer schwungvollen Leistung inspirierte.

Der Aufwand ist groß. Deshalb teilen sich wieder mehrere Theater die Kosten wie ähnlich schon bei der „Reise nach Reims“ und dem „Barbier von Sevilla“, von dem gleichen Team entwickelt. Diesmal ist es ein Vier-Bühnen-Projekt, vor anderthalb Jahren die Uraufführung in Kiel, jetzt (8. April 22) in Lübeck die zweite Präsentation. Parma und Novara in Italien vollenden das Quartett der Aufführungsorte.

Arndt Voß
Aufgewachsen in Neumünster, in Lübeck seit 1959. Studium in Kiel und Hamburg (Musik- und Literaturwissenschaft). Ständige Mitarbeit an den Lübeckischen Blättern von 1974 bis 2014, Berichte und Kritiken darüber hinaus in einigen anderen Organen. Schwerpunktthemen: Musiktheater, Schauspiel, Konzerte.

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