Ist es nur ein Zufall, dass nach dem Blick in Englands militaristische adlige Gesellschaft, den Benjamin Britten uns mit seiner Oper „Owen Wingrave“ erlaubt, jetzt ein anderer folgt? Oscar Wildes „Das Bildnis des Dorian Gray“ ist nämlich just im gleichen Zeit- und Lebensraum angesiedelt, dem Englands am Ausgang des 19. Jahrhunderts, dennoch ziemlich konträr.
Wenn man will, lädt auch die Schauspielsparte mit der Dramatisierung von Heinrich Manns „Der Untertan“ zum Vergleichen ein. Wie die anderen ist es wunderbar leicht in unsere Zeit zu transformieren. So manche hysterische Begeisterung für ein Idol, für einen hübsch verkleideten Selbstdarsteller in Politik oder Pop, ist dort vorgebildet.
Britten huldigt wie Henry Jones Novelle mit gleichem Titel dem Pazifismus. Das ist inzwischen eine längst gesellschaftsfähige Haltung. Da ist das Anliegen von Oscar Wilde weitreichender, deshalb zu seiner Zeit auch skandalöser und folgenreicher. Der Romanautor wurde für das, was er beschrieb, die (oder seine) Neigung zur Homoerotik, ins Gefängnis gesteckt. Inzwischen ist auch das, woran Wilde noch zerbrach, heute kein Thema mehr (oder sollte es nicht sein). Aber sein Buch hat weit mehr zu bieten, wovon die Ballettfassung nur Minimales zeigt, unter vielem verzichtet sie auch auf die homoerotische Problematik.
Aus dem Zeitgemälde von Wilde wird in dieser Ballettfassung das herausgefiltert, was mit Eigenliebe zu umschreiben ist, so viel und so wenig. So bestimmt anfangs der Maler Basil Hallward die Szene, dessen großes Ziel ist, in seinen Porträts einzig die Schönheit seiner Modelle aufzuzeigen. Das ist für einige gefährdend, fördert es doch die Eigenliebe. Auf einer Gesellschaft erlebt er Dorian Gray, den Titelhelden, am Klavier spielend. Oscar Wilde beschreibt ihn als Dandy, dessen Schönheit den Maler fasziniert. Er kann ihn als Modell gewinnen. Bei einer Sitzung kommt Lord Henry Wotton hinzu und weckt in Dorian das Bewusstsein seiner eigenen Schönheit. Sie auf immer zu erhalten, wird von nun Dorians ganzes Bestreben. Er wünscht sich, dass das Bild für ihn altere. Der Lord wird auch darin zum Verführer, dass er ihm suggeriert, alles auszuleben, wozu es ihn in seiner Jugend gelüstet.
Yaroslav Ivanenko, Chefchoreograf und Ballettdirektor des „Ballett Kiel“, fügt an dieser Stelle die Liebesgeschichte zur Sibyl Vane ein, deren Schauspieltalent ihn allerdings nur so lange fasziniert, bis die Liebe zu ihm ihr Leben bestimmt. Dorian ist davon enttäuscht und verlässt sie. Sie wiederum zerbricht daran und stirbt. Als er reumütig zurückkommt, entdeckt er an seinem Porträt, dass es fratzenhafte Züge bekommen hat. Sie spiegeln seine eigene Veränderung wider. Er versucht, das Portrait zu verstecken. Ein geheimnisvolles Buch, Geschenk von Watton, führt ihn in die Welt des Opiums ein. Im Rausch erlebt er sich und sein Umwelt neu, aber gespenstisch. Angst treibt ihn. Als der Maler Basil ihm zufällig begegnet, sieht er in ihm den Auslöser für seinen Zustand und ersticht ihn. Darauf erkennt er die Bedeutung des Porträts und zerfetzt es. Damit aber tötet er sich selbst. In dem leeren Rahmen erscheint die Gestalt von Lord Wotton, seines diabolischen Verderbers.
Wer Wildes Roman kennt weiß, wie stark er verkürzt wurde. In der Ballettfassung bleiben dennoch ein paar schön anzusehende Bilder übrig, die immerhin zeigen können, zu welch intimer Aussage die Tanzkunst fähig ist. Sie ist bei den männlichen Protagonisten stärker, als bei den weiblichen. So wirkt Keito Yamamoto, die die Schauspielerin Sibyl Vane tanzt, hier ungewöhnlich blass. Die Regie gibt ihr kaum Möglichkeit, auf Bühnenfiguren anzuspielen. Das kontrastiert zu der üppigen Pracht des Theaterraums mit seiner Doppelperspektive. Glaubwürdiger wird erst ihre Verzweiflung, die dann rasch ihr Ende bringt. Die Titelfigur Dorian Gray ist tänzerisch weit vielfältiger ausgestaltet. Christopher Carduck, sehr sicher in seinen tänzerischen Posen von Eitelkeit bis hin zum Opiumrausch, darf seiner Rolle viel Sinnliches geben. Er schafft es damit, den immer mehr zerstörenden Einfluss von Selbsttäuschung und Opium glaubhaft zu machen.
Am meisten überzeugte bei der Premiere Amilcar Moret Gonzales, nicht nur durch sein Äußeres. Imponierend stark, mit großen Sprüngen und weit ausladenden Armbewegungen wird er seiner Rolle als teuflischer Seelenfänger à la Mephisto oder anderer Kollegen seiner Zunft in jedem Moment gerecht. Für ihn hat Ivanenko eindrucksvolle Situationen gefunden, nicht zuletzt das Schlussbild, das endgültig seine Verderben bringende Kraft verdeutlicht. Dann sei noch Jean Marc Cordero genannt, der mehr als eine Art Stichwortgeber als Maler Basil Hallward ist. Ihn lässt die Regie etwas von dem Ästhetizismus der Zeit ausführen, wenn mit Akribie seine Leinwandgeschöpfe entstehen.
Dem Zweck, Tanzkunst als ein schönes Erlebnis zu präsentieren, dienten etliche Szenen. Heiko Mönnich hatte dazu sehr bewegliche Spiegelflächen auf die Bühne gestellt, dem Flügel in der zweiten Szene einen imposanten Auftritt gegeben, die Theaterszene mit rotem Vorhang und den roten Kleidern der Damen eine markante Optik verschafft und eindrucksvolle Abwandlungen des Porträts geschaffen. Nicht so ganz konnten die weißen, rollenden Kuben überzeugen. Der Eindruck von Spielzeug überwog.
Als Musik waren diesmal kammermusikalische Stücke ausgewählt. Dmitri Schostakowitsch, Frédéric Chopin und Ludovico Einaudi waren bemüht worden. Ihre Interpreten waren ein Quartett der Lübecker Philharmoniker (Carlos Johnson und Daniela Dakaj, Violinen, Bennet Ortmann, Viola und Hans-Christian Schwarz) und Daniel Carlberg am Klavier. Er ist Erster Kapellmeister und stellvertretender GMD in Kiel.
Das Lübecker Publikum war wieder einmal froh, auch Ballett in seinem Theater erleben zu können.