Evmorfia Metaxaki (Jesobel Morales)

NIGHT & DAY
Broadway-Show am Theater Lübeck

Endlich: nach mehr als einem halben Jahr bot das Theater Lübeck eine neue Produktion, mit „NIGHT & DAY“ als Titel und nach Songs von Cole Porter. Etwas von Broadway-Stimmung wollte man bieten. Sie mischte sich mit der Hochstimmung, dass das Große Haus wieder bespielt wurde.

Ein gutes Gefühl ist das. Es ähnelte nur wenig dem Gefühl auf Lübecks Broadway, von Heimattreuen Breite Straße genannt. Vor knapp zwei Jahren noch verkündete man im Theater Brechts Erkenntnis „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral“ und fragte: „Wovon lebt der Mensch?“ Nicht einzelne, sondern Gruppen davon gaben nun verspätet und unpräzise die Antwort. Aus allen Himmelsrichtungen waren sie herangeströmt, flanierten dicht an dicht, saßen vor Döner- und anderen Buden, standen in langen Schlangen und geduldig vor den Verkaufstempeln.

Was nimmt man in Kauf? Nichts, glaubte man, man kauft. Die Kür zur Modellregion Lübecker Bucht erlaubte das, erlaubte den nachgeholten Osterspaziergang, den der Geheimrat möglicherweise so variiert hätte: „Vom Virus befreit sind Markt und Gruben durch des Frühlings holden, belebenden Blick; im Städtchen grünet Hoffnungsglück“ - ein zweifelhaftes Glück, das Unzählige vielleicht zu arglos erprobten. Da waren die streng durchgespielten Hygieneregeln im Theater unerbittlich, aber richtig.

Nina Gülles (Porter Girl), Daniel Schliewa (Cole), Lorena Mazuera Grisales (Porter Girl), Sara Wortmann (Angel ), Marlou Düster (Porter Girl), Gerard Quinn (Eddie Pryce)Nina Gülles (Porter Girl), Daniel Schliewa (Cole), Lorena Mazuera Grisales (Porter Girl), Sara Wortmann (Angel ), Marlou Düster (Porter Girl), Gerard Quinn (Eddie Pryce) 
Sie bestimmten auch das Ergebnis, um das man sich ausgiebig bemüht hatte. Nur ein paar Schritte unterhalb der Stelle, wo die Bakerlane - so sei sie dem Stück zur Liebe genannt, - Lübecks Broadway begegnet. Mit einem musikalischen Ereignis konterte das Theater im Großen Haus den Massen. Hier wusste man, dass der Mensch auch von anderem lebt, und überzeugte das Publikum. Es applaudierte zum Schluss lange, mehr als zehn Minuten, darin enthalten der Dank dafür, dass man sehr wohl einen Modus finden kann, in einem größeren Rahmen zusammenzukommen und Besonderes zu erleben.

Zu erleben war ein Stück, das nicht recht einzuordnen ist und wofür Alexander Schuller im Programmheft einige Termini zur Verfügung stellt. Er nennt Show oder Revue, vielleicht auch Burleske oder Vaudeville in französischer oder amerikanischer Machart. Alles ist gemischt mit Clownerie, Tanz, Song und Satire. Michael Wallner, der mehrmals schon am Theater Lübeck sich beweisen konnte, hat sein Arbeits- und Erfolgsrezept. Schon häufig reduzierte er Großes. Als „Textdestillat“ wurde es einmal bezeichnet, was er z. B. aus Manns Großpoemen gewann. Und auch jetzt hatte er sich für seine Neuschöpfung durch eine Fülle von Material gearbeitet. Es war das weite Feld von Cole Porters Songs, unvergängliche Stücke zumeist, apart in Text und Musik. Von 1927 bis 1949 reichte, was Wallner auswählte, von „Let’s misbehave“ aus „Paris“ bis „Another op’nin‘, another show“ aus „Kiss me, Kate“.

Vorn: Sara Wortmann (Angel), im Hintergrund: Lorena Mazuera Grisales und Marlou Düster (The Porter Girls)Vorn: Sara Wortmann (Angel), im Hintergrund: Lorena Mazuera Grisales und Marlou Düster (The Porter Girls)

Aus dem letzten Titel scheint das entnommen, was der Zuschauer möglicherweise als roten Faden dafür erleben kann, was man als Handlung bezeichnet. Wallner möchte suggerieren, dass eine neue Show kreiert wird, wobei auf den Theaterbetrieb mit all seinen Schwierigkeiten abgezielt wird. Was soll gespielt werden, mit wem die Rollen besetzt sein, wie gespielt, wie die Technik eingesetzt, wie der Probenablauf sein, und vor allem das leidige Thema, wie kann der immer zu kleine Etat reichen? Das ist ein chaotisches Gewirr an Motiven, gewürzt mit biografischen Verweisen auf Cole Porter selbst, auf seinen Unfall, seine Melancholie, seine Homosexualität. All das war in knapp eineinhalb Stunden nur anzureißen, zog schemenhaft vorbei, temporeich, aber verworren. Weniger wäre wohl wieder einmal mehr gewesen. Chargenhaft und teils heftig übertreibend mussten die sechs Akteure und drei Tänzerinnen agieren. 

Steffen Kubach hatte sehr laut und vehement den Bill de Bill zu geben, den Produzenten, der alle Hände voll zu tun hatte, sein Gemischtwarensortiment an Akteuren zu bändigen. Günter Bartosch zählt (wieder im Programmheft nachzulesen) ein paar der Fähigkeiten auf, die so ein Produzent haben muss: Er sollte Betreuer, Krankenpfleger und Seelenarzt sein, zuvörderst aber Menschenschinder. Alles gab Kubach seinem Bill de Bill mit. Allerdings führte dieses neurotische Gebräu bei Bill schließlich zum Kollaps, warf ihn am Ende auf die Bretter. Nicht gut war das für eine Show.

Daniel Schliewa (Cole), Steffen Kubach (Bill de Bill), Lorena Mazuera Grisales (Porter Girl), Rudolf Katzer (Rick Ripley), Marlou Düster (Porter Girl)Daniel Schliewa (Cole), Steffen Kubach (Bill de Bill), Lorena Mazuera Grisales (Porter Girl), Rudolf Katzer (Rick Ripley), Marlou Düster (Porter Girl) 
So ließ Wallner ihn rechtzeitig zum großen Finale auferstehen und kräftig in das Tutti einstimmen. Er gesundete, merkwürdigerweise nicht sein weiblicher Star Jesobel Morales, die Primadonna, gespielt von Evmorfia Metaxaki. Etwa die Hälfte der Zeit musste sie wegen eines Sturzes ein wenig attraktives Gipsbein tragen. Trunksucht war ihr angedichtet, der zum Trotz sie wunderschön sang. Aber im Finale hätte auch sie gesunden und den Gips abnehmen dürfen, um wenigstens noch ein paar Tanzschritte beizugeben, denn auch tanzen konnte die Sängerin.

Zu den gestandenen Opernsängern gehört Gerard Quinn, der distinguiert und zurückhaltend den Conférencier zu mimen hatte, ein Grandseigneur in seinem Fach. Er hätte dem vermeintlichen Ergebnis der Anstrengung Ziel und Richtung geben sollen, was in der Aktion kaum gebraucht wurde, während er im Gesamtgewebe der Stimmen für das Fundament sorgte, für Ruhe und Sonorität.

Gerard Quinn (Mr. BIG Invisible), Rudolf Katzer (Rick Ripley)Gerard Quinn (Mr. BIG Invisible), Rudolf Katzer (Rick Ripley)

Das Handlungskonglomerat durchstreifte nun ziemlich alles, was am Theater passieren kann und was sonst das Publikum begeistert. Es begann mit einem Auftritt im Trenchcoat, den bekanntlich nur Detektive tragen. Die Figur war erfunden, den Titelsong zu beleuchten, und wurde dann nicht mehr gebraucht. Was so alles das Gesetz in der Nacht gefährdet, wollte er herausfinden, schnüffelte Lust und Begierde, Unmoral und böses Treiben. Der Regisseur selbst machte ihn dingfest, obwohl er in der Besetzungsliste unter dem Pseudonym Rudolf Katzer auftrat. Er wandelte sich daneben in eine Art Spiritus Rector, der als Autor natürlich genau wusste, welche Person wann, wo und wie wichtig ist. Er fand auch zur rechten Zeit den Tenor, der zugleich Komponist war. Ihn spielte und sang mit einem gut sitzenden Tenor Daniel Schliewa, der seine Ausbildung in Lübeck erhielt. Als Tenor musste er alle betören, notwendigerweise alle anderen Personen ihn lieben. Porters Songs geben in mancherlei Varianten viel her zu diesem ewigen Thema. Dabei entdeckte der Tenor auch seine homoerotische Neigung. Bill de Bills Perfum hat‘s ihm angetan, was der sehr genießt. Hier hatte die Regie natürlich ihre Grenzen, nicht wegen der homosexuellen Paarung, sondern wegen der Corona-Einschränkung, immer auf Distanz zu bleiben.

Zu den weiblichen „Bezugspersonen“ gehörte natürlich die Primadonna, dann die Neuentdeckung, die sich vom Schnatterentchen zum Singschwan wandelte, auch zur Kontrahentin des Stars. Sara Wortmann, ehemaliges Mitglied im Schauspielensemble, beweist in dieser Rolle wieder ihre musikalische Gewandtheit, hat vor allem eine Stimme, die Revuecharakter besitzt. Für die Handlung wichtig war sie als Dea ex Machina. Hier sprudelte das Einfallsglück, gewann sie sich doch nicht nur den Tenor, sondern rettete auch mal so eben die Existenz des Theaters und fand in Bill de Bill ihren Papa. Cole Porter hat eben für alles eine Formel: „Anything Goes“.

 SchlussapplausSchlussapplaus

Der wichtigste Grundstoff waren die Songs. Viele hatte Porter komponiert, für eigene Stücke oder für die von anderen. Sie showmäßig darzubieten war mit den drei munteren Porter Girls (Choreografie: Andrea Danae Kingston), den zwar weniger opulenten, dafür geschickt genutzten Kostümen und Bühnenarrangements (Aleksandra Kica und Heinz Hauser) durchaus sehenswert. Hörenswert dazu das musikalische Gewand, das Sven Sandler dem Philharmonischen Orchester und dem im Bühnenbild zu sehr versteckten Kleinchor mit seinen Arrangements verpasste. GMD Stefan Vladar zeigte sich auch in diesem Genre als ein umsichtiger „Motivator“ mit wunderbaren Momenten wie in der „Beguine“ oder im Finale.

Wie sagte Bill de Bill eingangs: „Aber nein, Kinder, so geht es nicht. Wie oft habe ich euch das gesagt: Es muss unterhalten. Es ist eine Liebesgeschichte, unkonventionell, aber ehrlich.“ Unterhalten tat es, der Applaus bewies es, auch wenn der Produzent (wie der Kritiker) immer unzufrieden sein muss.

Arndt Voß
Aufgewachsen in Neumünster, in Lübeck seit 1959. Studium in Kiel und Hamburg (Musik- und Literaturwissenschaft). Ständige Mitarbeit an den Lübeckischen Blättern von 1974 bis 2014, Berichte und Kritiken darüber hinaus in einigen anderen Organen. Schwerpunktthemen: Musiktheater, Schauspiel, Konzerte.

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