Michael Fuchs (Erzähler), Johann David Talinski (Hauke Haien), Mira Fajfer (Erzählerin), Susanne Höhne (Erzählerin), Heiner Kock (Erzähler)

Storms „Schimmelreiter“ in den Kammerspielen
Keine Chance für Corona an frischer Nordseeluft

Hauke Haien, als Schimmelreiter bekannt und eigensinniger Deichgraf von der Westküste, hätte sicher großes Interesse an den Tetrapoden gehabt, von denen drei die Bühne in den Kammerspielen dominieren.

Es sind Wellenbrecher, die aber erst seit Mitte des 20. Jahrhunderts dem Küstenschutz dienen, etwas über 70 Jahre nach dem Entstehen von Theodor Storms stimmungsvoller Novelle „Der Schimmelreiter“. Deren fiktive Geschichte datiert noch ein paar Jahrzehnte zurück. Das Hauptthema darin ist Hauke Haiens Streben, mit einer neuen Deichform das Küstenland und Mensch und Vieh besser vor den gewaltigen Kräften der Sturmfluten zu schützen. Auf Lübecks Bühne „schützen“ die Betonobjekte lediglich ein kahles Podest, das es schwer hat, an eine Warft zu erinnern. Das sind jene Hügel in der Marsch, auf dem die reichen Bauern ihre Häuser errichteten, um mit Hab und Gut bei Überflutungen einen sicheren Rückzugsort zu haben. Möglicherweise hinderte Corona den Bühnenbildner Nikolaus Frinke, der kargen Bühne mehr Atmosphäre zu geben, auch wenn manches davon durch Licht (Georg Marburg) und Musik (Alexander Xell Dafov) erbracht wurden.

Michael Fuchs (Tede Volkerts), Johann David Talinski (Hauke Haien)Michael Fuchs (Tede Volkerts), Johann David Talinski (Hauke Haien)

Knapp eineinhalb Stunden dauerte die saisoneröffnende Inszenierung der Novelle (Premiere: 4. September 2020), mit der das Sprechtheater der Pandemie zu trotzen suchte. Der grandiose Stoff war geschickt gewählt, mischt sich doch in ihm viel Reales mit Naturmagischem, mit unerklärlichen Vorgängen. Er spiegelt so etwa die momentane Situation. Da sind die gewaltigen Naturkräfte, die ausgerechnet einer bezähmen will, der selbst von aufbrausender Natur ist, sich allen und allem widersetzt, der aber auch eine andere Seite hat, die lieben und leiden kann. Mit großer Intensität spielt Johann David Talinski diesen einsamen Fantasten, der seine neue Deichform durchsetzt. Dessen Energie und Idealismus macht er ebenso deutlich wie Einsamkeit und streitbare Unruhe. Seinem bösen Jähzornanfall, bei dem er die Angorakatze von Trin‘ Jans erwürgt, steht das andere gegenüber, das überragend Menschliche. Die Szene, wenn er und Elke sich eingestehen, dass ihre Tochter Wienke „schwachsinnig“ ist, ist eine der großen Augenblicke in Storms Novelle wie in dieser Inszenierung. Elke beklagt, dass sie und Hauke „denn doch allein geblieben“ seien. Doch Hauke antwortet: „Ich hab‘ sie lieb, und sie schlägt ihre Ärmchen um mich und drückt sich fest an meine Brust; um alle Schätze wollt ich das nicht missen!“

Michael Fuchs (Erzähler), Mira Fajfer (Erzählerin), Johann David Talinski (Hauke Haien), Susanne Höhne (Trien‘ Jans)Michael Fuchs (Erzähler), Mira Fajfer (Erzählerin), Johann David Talinski (Hauke Haien), Susanne Höhne (Trien‘ Jans)

Es sind solche Momente, die Storms Dichtung modern erscheinen lässt. Es ist ein Plädoyer für geistig Behinderte, die in der Zeit einfach weggesperrt wurden. Es ist aber auch ein Plädoyer für tatkräftige, sich aller einengenden Tradition entgegenstellende Frauen wie Elke. Einfühlsam und mit großer Ruhe, zugleich herb und aufrichtig wird sie von Mira Fajfer gestaltet. Sie zeigt damit all das, was Storm dieser starken Frau bereits an emanzipatorischer Kraft angedichtet hatte. Das ist vorausblickend, drückt sich auch in der alten Trin‘ Jans, der anderen Frauenfigur. Einsam ist sie und zugleich Hauke ähnlich. Susannne Höhne spielt sie in ihrer bewussten Art mit unnachahmlichen Auftritten in Holzpantinen und Gummistiefeln. Sie vermag auch zu verhindern, dass der überbordende weiße Umhang (Kostüme: Camilla Daemen) diese Figur zur Karikatur verkommen lässt. Feinsinnig ist ihr widerborstiges Auftreten Hauke gegenüber, der ihr leichtfertig ihren Lebensmittelpunkt genommen hatte. Schade nur, dass die emotional tiefe Versöhnungsszene mit Hauke beim Eisboseln gestrichen wurde. Aber die junge Regisseurin Brit Bartkowiak war wohl darin ebenfalls ein Corona-Opfer, da sie die Personen immer distanziert einsetzen musste. Dazu musste das Geschehen komprimiert werden, um jede körperliche Nähe zu verhindern, selbst den Händedruck, der das Verhältnis von Elke und Hauke bestimmt.

Michael Fuchs (Erzähler), Mira Fajfer (Erzählerin), Heiner Kock (Erzähler), Susanne Höhne (Erzählerin)Michael Fuchs (Erzähler), Mira Fajfer (Erzählerin), Heiner Kock (Erzähler), Susanne Höhne (Erzählerin)

Das Programmheft verzeichnet niemanden, der für den Text verantwortlich ist. So wird diese Fassung, die das Dialogische hörbuchartig mit begleitenden epischen Passagen mischt, wohl von der Regie zusammen mit dem Ensemble erarbeitet worden sein. Für jeden der fünf Agierenden war ein großer Teil der weiterführenden epischen Partien zu gestalten. So mussten sie immer wieder hinter ihre Novellenfigur zurücktreten und Sprach- und Spielgestus ändern.

Karikatur gefährdete weiterhin die Darstellung des Tede Volkerts, da der alte Deichgraf und Vater von Elke schon bei Storm mit leiser Ironie gesehen wurde. Ein schwabbelig weißes Wams hätte ihn gänzlich auf seine Verfressenheit reduziert. Aber Michael Fuchs überspielte das geschickt, rettete ihm bedachtsame Würde, die er auch dem anderen Tede gab, dem Vater Haukes, und einem dritten aus der Vorgängergeneration, Jewe Manners. Er ist Elkes Pate, einer der Hauke unterstützt.

Mira Fajfer (Elke Volkerts), Johann David Talinski (Hauke Haien)Mira Fajfer (Elke Volkerts), Johann David Talinski (Hauke Haien)

Auch Heiner Kock hatte mehrere Figuren darzustellen, die wichtigste war Ole Peters, der körperlich robuste, doch geistig derbe, verbissene Widersacher Haukes. Plausibel verkörperte er ebenso den Carsten, der auf der Jevershallig mutig das spukhafte Rätsel um Haukes Schimmel zu klären sucht.

Es war eine temporeiche Aufführung, die viele Eigenheiten von Storms Novelle verdeutlichte, die die Charaktere plastisch umschrieb. In Momenten war sie dagegen zu verspielt, wenn etwa dem Flügel geisterhaft irreale Töne entlockt wurden oder ihm das Etikett „Schimmel“ auf den Tastendeckel geklebt wurde. In einer Szene soll er Hauke und Elke trennen, gleichsam wie der Schimmel es in der Novelle macht. Das geht an, aber mit der Doppeldeutigkeit des Begriffes zu spielen, die den alten Flügel als einen der Klavierbauerfirma Schimmel ausweisen soll, ist nur als Gag zu sehen, auch wenn die Firma drei Jahre vor dem Entstehen der Novelle unter der Devise „das bestmöglichste Instrument zu günstigem Preis“ gegründet wurde.

Arndt Voß
Aufgewachsen in Neumünster, in Lübeck seit 1959. Studium in Kiel und Hamburg (Musik- und Literaturwissenschaft). Ständige Mitarbeit an den Lübeckischen Blättern von 1974 bis 2014, Berichte und Kritiken darüber hinaus in einigen anderen Organen. Schwerpunktthemen: Musiktheater, Schauspiel, Konzerte.

Sie haben keine Berechtigung hier einen Kommentar zu schreiben.