Gabriele Völsch (Ada Freifrau von Stetten), Matthias Hermann (Max), Michael Fuchs (Karl)

Ödön von Horváth in den Kammerspielen
„Schöne Aussicht“ auf skurrile Typen

Es wurde einige Male gelacht, sollte wohl auch. Denn das Stück in den Kammerspielen, eines des 25-jährigen Ödön von Horváth, war im Untertitel als „Komödie in drei Akten“ ausgewiesen. Wenn man den ungarischen Diplomatensohn kennt, der glücklicherweise lieber auf Deutsch schrieb, muss man den Begriff Komödie allerdings infrage stellen.

Darunter ist manches zu verstehen, vor allem bei ihm. 1926 hatte er „Zur schönen Aussicht“ verfasst, als er noch in Murnau lebte. Dort am München nahen Staffelsee gibt es eine wirklich schöne Aussicht auf die Alpenwelt, und dort gab es auch eine Pension unter diesem Namen. In ihr hatte er seine Freunde lieber untergebracht als im Elternhaus. Sie wurde Vorbild für das abgehalfterte Hotel in seinem Stück, in dem er sieben Personen zusammenführte, genauer: aufeinander losließ.

Ein Hotel ist in Horváths Vorstellung also Spielort. Da muss es auch einen Hotelier beim Bühnenpersonal geben, hier Strasser genannt. Es ist ein damals in und um München herum bekannter Name, besonders durch ein Bruderpaar mit Gregor, zu der Zeit NSDAP Reichspropagandaleiter, und Otto, Verleger im „Kampfverlag“, beider politisches Sprachrohr. Erwähnenswert ist das, weil Horváth hier und später in seinen Stücken stets Zeit- und Lokalkolorit nutzt. Hier haftet der Bühnenfigur zwar nur der Name an, assoziiert ist damit aber allerlei Zeittypisches.

Jan Byl (Strasser), Robert Brandt (Müller), Michael Fuchs (Karl), Matthias Hermann (Max), Sven Simon (Emanuel Freiherr von Stetten)Jan Byl (Strasser), Robert Brandt (Müller), Michael Fuchs (Karl), Matthias Hermann (Max), Sven Simon (Emanuel Freiherr von Stetten)

Der Hotelier, der Strasser aus dem Stück, ist ein verarmter ehemaliger Offizier und Bonvivant. Er bekommt einen Gegenspieler und Neider mit dem schlichten Namen Müller, der als rüder Faschist selbst gern Militär geworden wäre. Jetzt ist er „nur“ bürgerlicher Weinhändler und besitzt als solcher viel Geld. Er kommt in „Die schöne Aussicht“, um das einzutreiben, was er davon Strasser geliehen hatte. Der lässt sich lieber von Max, seinem Kellner, verleugnen, der als Kunstgewerbler in Sachen Plakat keine andere Existenz fand.

Jan Byl (Strasser), Matthias Hermann (Max), Gabriele Völsch (Ada Freifrau von Stetten)Jan Byl (Strasser), Matthias Hermann (Max), Gabriele Völsch (Ada Freifrau von Stetten)Beide, Kellner und Chef, kennen sich schon aus Autoschieberzeiten, haben jetzt im Hotel wenig, aber viel gemeinsam zu tun. Sie sind nur für einen Gast da, dem einzigen, das allerdings am Tage und auch nachts, für Ada Freifrau von Stetten. Sie ist sehr bemittelt und hält sich nicht nur diese beiden, auch noch einen Leibchauffeur, mit dem sie ab und zu Lustfahrten unternimmt. Karl heißt er, ein Zuchthäusler, der wegen Totschlags eingebuchtet war und mit dem auch die beiden anderen Galane in Portugal zu schaffen hatten.

Den männlichen Teil der Besetzungsliste füllen also Müller und das Trio aus Max, Karl und Strasser. Einer fehlt noch, es ist Adas Zwillingsbruder Emanuel, ebenfalls ein Freiherr von Stetten. Ihn hat das schwesterliche Geld herbeigelockt, denn seines hatte er standesgemäß verspielt. Seinem Dünkel behagt es gar nicht, dass er von Karl erfahren muss, dass „Erotik … keinen Standesunterschied“ kennt, als der ihm seine Schwäger vorstellt und damit die Hoffnung auf familiäre Zuwendung nimmt.

Für eine Komödie wäre das schon Komplikation genug. Aber zur Würze kommt noch Christine hinzu, gerade volljährig und vor gut neun Monaten schon einmal Gast im Hotel. Mit den unschönen Folgen konfrontiert sie nun Strasser, was zweierlei auslöst, Strassers Ableugnen einer Vaterschaft, wobei die anderen Herren sich mit einem perfiden Plan zeugend beteiligen, und Adas Eifersucht, die sich Christine als Konkurrentin vom Halse schaffen möchte. Wie das raffiniert und konfliktreich abläuft, bedarf schon eines geschickten Dramatikers, als der der junge Horváth sich hier erweist.

Rachel Behringer (Christine), Matthias Hermann (Max)Rachel Behringer (Christine), Matthias Hermann (Max)

Es wurde einige Male gelacht, das darf sich die Inszenierung zugute schreiben. Sie war rasant und locker und amüsierte damit das Publikum. Hilfe leistete das Bühnenbild mit zwei bizarren, malerisch im Hintergrund aufragenden Gipfeln (Lina O. Nguyen), in deren Felsstruktur Europa zu erkennen war. Pünktlich zum Beginn der Vorstellung gab es einen Steinschlag: Links fiel England als Brocken heraus. Schließlich fand die Premiere ja am 31. Januar im europäischen Schicksalsjahr 2020 statt. Es wäre reizvoll, eine andere Aufführung zu sehen, wo die tagespolitische Anspielung kalter Kaffee geworden ist. Was macht man da? Oder sollte das später ertönende Stück verzerrter Europa-Hymne aus der „Ode an die Freude“ einen nachhaltigeren Sinn stiften? Es ist immerhin von dem komponiert, den man 2020 ein ganzes Jahr lang ehren wird (Musik: Caroline Bigge).

Michael Fuchs (Karl), Sven Simon (Emanuel Freiherr von Stetten)Michael Fuchs (Karl), Sven Simon (Emanuel Freiherr von Stetten)

Aber der Zuschauer ist gewarnt: Politisches und Endzeitstimmung ist in der Komödie zu erwarten, denn zusätzlich steht vor diesem Hintergrund eine schiefe Ebene mit einem schmalen Steg oben und grauem Split darauf, auf dem keiner Halt fand. So ging es für alle abwärts. Unten hatte einer, der Ober natürlich, dann zur Erinnerung an die Existenz des Hotels einen Gartentisch und vier Stühle aufzubauen. Sie waren ebenso gräulich wie alles andere, Relikte einer in Staub und Asche zerfallenen Pracht. Wechselnde Beleuchtung und zum Ende hin die Projektion eines Gitters mit Spinne auf das Gebirge sollten wohl die drei ursprünglichen Spielorte andeuten, Halle, Speisesaal und Korridor.

In dieser Landschaftsabstraktion wurde von Friederike Harmsdorf mit lockerer Hand, wobei ihr auch ein Gutteil des Textes durch die Finger glitt, das Stück inszeniert. Eine Stunde und 20 Minuten gönnte sie sich und den Zuschauern, das Panorama zu genießen. Dabei wäre Zeit gewesen. Erst „Punkt fünf Uhr früh“ müsste Emanuel sich „selbst guillotinieren“, wie er bramarbasierend zu enden androhte. Noch ein paar Minuten später, pünktlich 5 Uhr 07, würde erst der Frühzug mit der weiblichen Hauptfigur abdampfen, mitsamt ihrem Erbe, nach dem alle lechzten, dem Geld, nicht dem Kind.

Robert Brandt (Müller), Matthias Hermann (Max)Robert Brandt (Müller), Matthias Hermann (Max)In einem hohen Tempo jagt die Regie den Text durch die ersten beiden Akte, gab allen dramatischen Feinheiten keine Luft, den Leitmotiven wie Gott und Religion, Mond und Zeit, das Nichtkennen untereinander und die Gedanken bindenden Sprichwörter und Redensarten, vor allem der Binnengliederung, wenn der Dialog immer wieder in Stille fällt. Auch wenn Horvárth für dieses Stück noch keine dezidierten Spielanweisungen gab, wäre aber ein Rückschluss aus späteren möglich. Dringend mahnt er, „genau auf die Pausen im Dialog“ zu achten. Die Stille erst erlaube dem Zuhörer ein Mitdenken, erlaube den Schauspielern erst, ihren skurrilen Typen das Parodistische oder Satirische zu nehmen: „Es darf niemand als Karikatur gespielt werden“.

Matthias Hermann verstand es noch, dem Max in seiner allem ausweichenden Unbeständigkeit ein Profil zu geben. Auch Jan Byl konnte das bei seinem Hotelier Strasser. Er blieb als Mensch, wenn auch schwacher, kenntlich. Michael Fuchs dagegen durfte als autobesessener und triebgesteuerter Karl (oder Kerl) einfach nicht handfest genug sein. Neben diesen drei Eh(r)e(n)männern gab Robert Brandt den Weinhändler Müller, den Außenseiter vor Ort. Er überreizte ihn allerdings durch Groteske bis ins Absurde hinein. Damit wurde verpasst, in dieser Figur das Faschistische, das sprachliche Potential der Rechten aufzuzeigen, auf das Horváths Text genug hinweist.

Für Sven Simon war der Freiherr eine treffliche Rolle. Er war mit Distinguiertheit in seinem Element. Schade, dass Kostümbildnerin Sibylle Wallum ihn von Anbeginn in ein Unterhemd steckte. Das wirkte vulgär, nicht ausgezogen. Ihre Schöpfungen für die Damen waren dagegen großartig. Vor allem Gabriele Völsch durfte und konnte mit ihren exaltierten Hutschöpfungen groß was hermachen. Ein anderes war ihr Divenauftritt als Lauretta aus Puccinis „Gianni Schicchi“ mit der Erbschleicher-Thematik ein guter, doch wieder isolierter Gag. Die zweite weibliche Figur schließlich war mit Rachel Behringer gut besetzt. Sie blieb aber hinter ihren Möglichkeiten zurück, weil die bedeutungsschwangere Szenerie Christines Charakter entgegenstand.

Jan Byl (Strasser), Robert Brandt (Müller), Michael Fuchs (Karl), Matthias Hermann (Max), Sven Simon (Emanuel Freiherr von Stetten)Jan Byl (Strasser), Robert Brandt (Müller), Michael Fuchs (Karl), Matthias Hermann (Max), Sven Simon (Emanuel Freiherr von Stetten)

Ödön von Horváths frühes Stück verwehrt sich noch jeder Emanzipationsvereinnahmung, wie es die Einführung im Programmheft herausstellen möchte. Das „Fräulein“ ist in „Der schönen Aussicht“ stark und selbstbewusst, vermag sich durchzusetzen wie auch Ada. Beide tun und können das aber, weil sie Geld haben, um das sich in dieser bitteren Komödie einzig alles dreht. „Ich meine, ganz unrecht hat ein Publikum ja nie“ sagte Hugo von Hofmannsthal einst. Auch das Lübecker der Premiere sah vor allem die Farce und ergötzte sich daran.

Arndt Voß
Aufgewachsen in Neumünster, in Lübeck seit 1959. Studium in Kiel und Hamburg (Musik- und Literaturwissenschaft). Ständige Mitarbeit an den Lübeckischen Blättern von 1974 bis 2014, Berichte und Kritiken darüber hinaus in einigen anderen Organen. Schwerpunktthemen: Musiktheater, Schauspiel, Konzerte.

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