Stephanie Schadeweg (Harper), Will Workman (Prior)

Tony Kushners „Engel in Amerika“ in den Kammerspielen
Glitzershow der Homophilie

Tony Kushners Erfolgsstück „Engel in Amerika“ hat Furore gemacht. Große Preise hat es gewonnen und gilt als eines, das Gesellschaft und Politik, auch die Weltsicht der USA in der Reagan-Zeit abbildet.

Es zitiert oder verarbeitet die diversen damaligen Probleme nicht nur, es bedient sich sogar einer geschichtlichen Figur. Es ist Roy Cohn, ein zwielichtiger Advokat, über den der „Spiegel“ 2016 titelte: „US-Anwalt Roy Cohn: Der Mann, der Trump groß machte“. Das eröffnet neues Interesse an einem Stück mit einem recht amerikanischen Themen-Konglomerat, das - notwendig stark gestutzt – in den Kammerspielen in nur etwas mehr als zwei Stunden abgehandelt wird.

Im Rammstein-Song „Engel“ fand Marco Štorman das Motto für seine Inszenierung und erschuf eine Art Glitzershow der Homophilie (Premiere: 8. November 2019), vermochte auf diese Weise das allzu tiefgründige Stück mit seinen vielerlei Verweisen und zwei divergenten Teilen für hiesige Theatergänger genießbar zu machen. Die zwei Zeilen „Wir haben Angst und sind allein / Gott weiß, ich will kein Engel sein“ lehnen sich zum einen passend an Kushners Titel an, zum anderen liefert der Song in seiner Ambivalenz einen grandiosen Einstieg.

Astrid Färber (Herr Lüg)Astrid Färber (Herr Lüg)Von der Seite im Zuschauerraum her entert ein Paar die Bühne, eine schlanke Blondine im schillernden Frack mit langer Schleppe, und ein Er mit leicht meliertem, streng zurückgekämmtem Haar und in einem rot-violett changierenden Anzug, wie eben Musiker in Unterhaltungsetablissements auftreten. Er ist ein Schleppenträger für sie als Diseuse und begleitet ebenso elegant ihren Gesang. Damit hat Astrid Färber einen großen Auftritt, wieder einmal quasi als Transvestit. Herr Lüg ist ihr Name, und ein zwittriges Glitzerwesen von nuancierter Unbestimmtheit. Es fasziniert, wie sie den Engel-Song ins Mikrophon haucht und die Richtung vorgibt, einen Varietézauber des Sonderbaren entfaltet, zart und wie nebenher - so auch von Thomas Seher begleitet.

Es ist der Beginn einer dezenten, dennoch gleißenden Show, in der außergewöhnliche Charaktere im Mit- und Gegeneinander vorgeführt werden. Alles glitzert, das immer wieder verstreute glänzende Konfetti auf Michael Köpkes Bühne mit sich spiegelnden Flächen und mit zahllosen Discokugeln auf dem Boden. Auch Sara Kittelmanns schrille Kostüme unterstützen mit ihren Arrangements das Spiel, wenn die grellen Wesen vor einem Glasquader und die noch exaltierteren Wesen darin ihre Spiele entfalten, ihre Spiele um Anerkennung und Bemächtigung, um Demontage und Liebe, um Treue und Verderben. Das Innen und das Außen, so erkennt man es immer deutlicher, trennt die Wesen, die einen, die schon im Kubus sind, gefangen in ihrer Homosexualität und durch Aids zerstört, die anderen noch davor, erst auf dem Weg dahin, sich ihre Empfindungen einzugestehen.

Will Workman (Prior), Heiner Kock (Louis)Will Workman (Prior), Heiner Kock (Louis)

Der erste Akt heißt im Original „Millennium Approaches“, der zweite „Angels in America: Perestroika“. Das spielt in der Lübecker Fassung kaum eine Rolle, da das Personal verdünnt wurde und in beiden Teilen gleich blieb. Vielleicht war es geschickt, auf das Varieté zu setzen, da dort die einzelnen Nummern nur oberflächlich zusammenhängen, jeder der vier auftretenden Männer für sich steht. Ältester ist eben jener Anwalt, der an Aids leidet, selbst aber „nur“ einen Leberkrebs an sich entdecken will. Damit glaubt er sich in einem erzkonservativen System jeglicher moralischen Verantwortung enthoben.

Robert Brandt mimt ihn, zerbrechlich und exaltiert, dennoch voller böser Energie, mit der er noch im Todeskampf andere zu beeinflussen sucht. Darunter ist Joe, sein politischer Zögling, Mormone und verheiratet. Peter Elter gibt ihm in einem altrosa Habit mit kurzer Hose eine traurige, nahezu kindlich-unschuldige Gestalt, entdeckt er doch als einziger erst im Zusammentreffen mit Louis seine Neigung. Der wird von Heiner Kock mit eleganter Kraft dargestellt. Er selbst wendet sich von dem ebenfalls an Aids erkrankten Prior ab. Das ist eine merkwürdige Figur. Vom Text her kaum zu fassen, tritt er zunächst wie ein Pater auf, muss dann den körperlichen und seelischen Verfall gestalten, wird dann im surrealen zweiten Akt zu einem schwarzen Engel, der den Himmel besucht – es ist eine grandiose Leistung von Will Workmann, diese Partie dennoch immer präsent zu halten.

Stephanie Schadeweg (Harper)Stephanie Schadeweg (Harper)

Nur eine weibliche Rolle gibt es, gegenüber vier männlichen. Es ist Harper, auch das keine leichte schauspielerische Aufgabe, die Stephanie Schadeweg zu gestalten hat. Man erfährt von einer ehelichen Beziehung, die unter der uneingestandenen Veranlagung des Ehemanns leidet. Valium ist die Hilfe, alles im Rausch zu ertragen, auf Reisen, bei denen Herr Lüg beisteht, bis sie sich im zweiten Teil fängt und in ihrer Neigung zur Antarktis sich stabilisiert.

Die „große alte Partei“, die republikanische, wird von Tony Kushner an ihren Machtspielen vorgeführt. Davon bleibt in dieser Inszenierung mit Showcharakter wenig. Im zweiten Akt droht der leichte Varieté-Ton sogar wuchtig zu werden. Ein (allzu) langer Monolog vor dem Vorhang mit einem uferlosen Gedankenfluss über Demokratie und Rassismus, über Amerika und Europa, über Holländer und Briten verschiebt die Handlung zur Abhandlung.

Stephanie Schadeweg (Harper), Will Workman (Prior), Robert Brandt (Roy)Stephanie Schadeweg (Harper), Will Workman (Prior), Robert Brandt (Roy)

Erst wenn der Vorhang sich hebt, ist das Leichte durch schwebende Figuren wieder da, durch groteskes Spiel mit überdimensionalen Engelsflügeln, mit einem Herrn Lüg jetzt in einem tutuartigen Kurzrock oder mit Pfeile schießenden Amoretten. Der Zuschauer ist erschlagen von viel Bühnenzauber und durch hinreißende Darstellerlust, die dem historischen Gemenge einen Teil von Schwere und Unübersichtlichkeit nehmen. Sie vereinfachten im Wesentlichen auf ein Thema, auf die Homophilie. Es gab langen Premierenbeifall.

Arndt Voß
Aufgewachsen in Neumünster, in Lübeck seit 1959. Studium in Kiel und Hamburg (Musik- und Literaturwissenschaft). Ständige Mitarbeit an den Lübeckischen Blättern von 1974 bis 2014, Berichte und Kritiken darüber hinaus in einigen anderen Organen. Schwerpunktthemen: Musiktheater, Schauspiel, Konzerte.

Sie haben keine Berechtigung hier einen Kommentar zu schreiben.