Ensemble

Das Leben in einer Zeitkapsel beim "Spielclub 3" am Theater Lübeck
„Hundert Stunden Nacht“

In Lübecks Jugendtheater steigert man sich numerisch.

Der erste Spielclub beschäftigte sich mit Mobbing in einem Erziehungslager. „Das Camp“ hieß Andreas Galks Stück, für Jugendliche ab 15 gedacht. Dann folgten beim Spielclub 2 für junge Erwachsene ab 16 Jahren gleich 50 Schattierungen, fremdsprachlich verbrämt im Titel von „Fifty Shades of Porn“. Es war ein selbst gestaltetes Stück mit einem sehr speziellen Thema. Jetzt, nur zwei Wochen später, lautete der Titel „Hundert Stunden Nacht“, eine Steigerung zumindest in den nummerischen Bezügen.

Der Spielclub 3 hatte sich ein Buch der niederländischen Jugendschriftstellerin Anna Woltz vorgenommen und mit großer Ausdauer in mehr als einem Jahr eine Bühnenfassung von „Honderd uur nacht“ geschaffen. So heißt der Jugendroman im Original, 2014 veröffentlicht. Seit zwei Jahren ist er unter dem Titel „Hundert Stunden Nacht“ deutschsprachig zu lesen, übersetzt von Andrea Kluitmann und gleich mit der „Kröte des Monats“ ausgezeichnet. Den Literaturpreis erhalten Bücher, die die Jury für besonders beachtenswert hält.

Phillip Gutberlet, Beeke Ötting, Simon Paap, Anna LorenzenPhillip Gutberlet, Beeke Ötting, Simon Paap, Anna Lorenzen

Der Roman schildert eine extreme Ausnahmesituation, ein Art irreales Leben in einer Zeitkapsel, das dennoch nachvollziehbar Probleme Jugendlicher thematisiert. Denn Emilia, gerade einmal 15 Jahre alt, schämt sich für ihren Vater. Was genau vorgefallen ist, erfährt der Leser erst recht spät. Was momentan für sie die Situation verschärft, ist zum einen die Stellung des Vaters, der Schulleiter an ihrer Schule ist, zum anderen, dass jeder Mitschüler über sein Fehlverhalten durch das Internet Bescheid weiß.

Sie reißt aus, besorgt sich ein Flugticket und mietet sich über das Internet in New York eine Bleibe, beides mit Hilfe der Kreditkarte ihres Vaters. Dort angekommen, muss sie erfahren, dass die Wohnung nicht existiert. Die Katastrophe bahnt sich an, bei der ihre chaotischen Seelenzustände sich in ihrer neuen Existenz spiegeln. Zum einen trifft sie unter der falschen Adresse Seth, einen Jungen im gleichen Alter wie sie. Er lebt in der Wohnung allein, da seine Mutter verreist ist.

Philipp Rehbock, Maj KortümPhilipp Rehbock, Maj Kortüm

Später lernt sie auch seine jüngere Schwester Abby kennen, mit 9 Jahren ein Kind noch, aber sehr aufgeweckt. Zunächst jedoch begegnet sie Seths Freund Jim, mit 17 etwas älter. Er hat sich eine Handverletzung zugezogen. In dessen chaotischer Wohnung kommt sie vorübergehend unter, entwickelt so etwas wie eine Beziehung zu ihm, womit auch das verwirrende Thema Sex angesprochen werden kann.

Dann verschärft sich die Situation durch den Hurrikan Sandy, der ein reales Vorbild im Jahre 2012 hat. Er tobt so heftig, dass die gesamte Stromversorgung zusammenbricht. Sie zwingt die Jugendlichen, sich in einer Notgemeinschaft zusammenzuraufen. Die Konflikte dabei, sind das eigentliche Thema des Romans. Im Dunkeln müssen sie sitzen und ohne Möglichkeit, nach außen Kontakt über Mobilfunk aufzunehmen. Für Emilia wiegt besonders schwer, dass auch die Wasserversorgung entfällt. Sie hat ein besonderes Problem, eine Phobie vor Schmutz und Bakterien und hantiert ständig mit einem Desinfektionsspray herum.

Beeke Ötting, Philipp Rehbock, Anna LorenzenBeeke Ötting, Philipp Rehbock, Anna Lorenzen

Acht Jugendliche, Theresa Gast, Lola Geffrelot, Phillip Gutberlet, Maj Kortüm, Anna Lorenzen, Beeke Ötting, Simon Paap und Philipp Rehbock, haben an der Bühnenfassung gearbeitet, sollten auch alle in Katrin Öttings Inszenierung ihre Rolle finden. Das funktionierte hier so, dass jeder irgendwann einmal jede der vier Handlungsfiguren übernahm. Emilia bekommt also acht Gesichter, wie auch Seth und Abby und Jim. Geschlechtsneutral wird das, für die Akteure keine große Angelegenheit, ist auch mit der reizvollen Aufgabe verknüpft, in aller Geschwindigkeit die Sicht zu wechseln und die Empfindungen aller im Blick zu haben.

Für den Zuschauer ist das problematischer, da alle gleiche Kleidung tragen, Jeans und orangefarbene Kapuzenpullis. Es dauert eine gewisse Zeit, bis er erkennt, dass Emilia mit ihrer Spraydose einen Marker besitzt, Seth mit seiner Beanie, der Mütze ohne Bommel. Seine Schwester erkennt man an dem weißen Plüschhund, bei dem sie Wärme sucht, und Jim daran, dass er ständig seine verletzte Hand hochhält. Im Vorbeigehen wechselt die Dose von einer Hand in die andere, werden Mütze oder Hund getauscht. So sind die Figuren in einem ständigen Fluss.

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Eine große Leinwand auf einem Rollengestell und zwei Seitenvorhänge ermöglichen raschen Ortswechsel, wodurch die Aufführung zusätzlich ein hohes Tempo bekommt. Erstaunlich ist, wie das professionell durchgeführt wird. Es verriet eine sorgfältige, eine langen Atem benötigende Arbeit in der Probenzeit von 14 Wochen. Katia Diegmanns minimale Ausstattung und die Lichtregie von Finn Heine gab ein wenig Hilfe, in diesem eher abstrakten Geschehen sich anrühren zu lassen.

Die zweite Aufführung, über die hier berichtet wurde, fand ein zumeist junges, gleichaltriges Publikum, das sich mit großer Aufmerksamkeit in das Szenarium hineinziehen ließ, das offensichtlich auch mit Interesse den vielseitigen Problemkreisen folgte und lange applaudierte.

Die nächsten Termine:
Di 26. und 27. November 2019 jeweils 19.00 Uhr

Arndt Voß
Aufgewachsen in Neumünster, in Lübeck seit 1959. Studium in Kiel und Hamburg (Musik- und Literaturwissenschaft). Ständige Mitarbeit an den Lübeckischen Blättern von 1974 bis 2014, Berichte und Kritiken darüber hinaus in einigen anderen Organen. Schwerpunktthemen: Musiktheater, Schauspiel, Konzerte.

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