Alexander Scheer, Foto: (c) Arno Declair

David Bowies Musical "Lazarus" im Schauspielhaus Hamburg
„Alles in meinem Kopf!“

Dem Ensemble des Schauspielhauses (Regie: Falk Richter) gelingt ein nachhaltig beeindruckender Unterhaltungstrip aus Livemusik, Irritationsgenuss und doppelten Böden. „Lazarus“, die Fortschreibung des Films „Der Mann, der vom Himmel fiel“ (1976), SF-Klassiker von Nicolas Roeg, mit David Bowie in der Hauptrolle, ist nicht der übliche Stoff von der Singspielstange.

Ein dünner, weißer Mann in einem fruchtigen, langen Bademantel, mit breitkrempigem Hut und tropfenförmigen Brillengläsern über dem harten Blick, betritt forsch die Bühne, wendet sich einer überdimensionalen Videowand mit dem Nachrichtenhorror der Gegenwart zu – Ertrinkende im Mittelmeer, G20-Bürgerkrieg in Hamburg, Trump, das Killerauto bei der Anti-Rechts-Demo in Charlottesville/USA, all das. Scheinbar unbeeindruckt in den ersten Momenten, platzt es ihm schließlich aus dem Gesicht: „Silhouettes and shadows watch the revolution / No more three steps to heaven!“ „It's No Game“, einer von 13 David-Bowie-Songs aus den Jahren 1970-2016, die, mit 3 neuen, das musikalische Material des Musicals bilden.

Der dünne Mann heißt Thomas Jerome Newton, gespielt wird er in Hamburg von Alexander Scheer („Gundermann“, Dt. Filmpreis 2019) mit vollständiger Selbstverständlichkeit. Er ist für das Musical, was Bowie für den Film war: die Idealbesetzung. Gleich zu Anfang beim Titelsong – „Look up here, I'm in heaven“ – geht eine Art kollektives Atemstocken durch die Sitzreihen, ein leiser Ruck, so sicher und scheinbar mühelos trifft Scheer den Ton, „Bowies Stimmlage, diesen geisterhaft hohlen, in den hohen Lagen kippenden Bariton“ (Hamburger Abendblatt).

Alexander Scheer, Foto: (c) Arno DeclairAlexander Scheer, Foto: (c) Arno Declair

Fragmentiert
Als im Juni '75 die Dreharbeiten von „Der Mann der vom Himmel fiel“ begannen, war es gerade ein Jahr her, dass David Bowie sich von seinem mutierten Ziggy-Stardust-Image befreien konnte, mit kaum mehr als einer Ahnung, was als nächstes passieren könnte. Ein Suchender, der einen anderen, erdachten Suchenden verstand und in jeder Sekunde glaubhaft wiedergeben konnte. Er aß kaum, konsumierte Kokain und trank Milch. Filmhistoriker Paul Duncan sah eine „fragmentierte Persönlichkeit“ am Set – der Film kam genau zur rechten Zeit, Bowie wird diese Arbeit später als eine seiner wichtigsten persönlichen Erfahrungen bezeichnen. Bowies Verkörperung des Thomas Jerome Newton in der Romanverfilmung („The Man Who Fell To Earth“, Walter Tevis, 1963) – sein Schauspieldebüt – war die totale Überantwortung seines Ichs an die Figur, der Unterschied zwischen Rolle und Darsteller verschwand vollkommen.

Alexander Scheer, Sachiko Hara, Foto: (c) Arno DeclairAlexander Scheer, Sachiko Hara, Foto: (c) Arno DeclairNewton ist ein reptiloider Außerirdischer, der, getarnt durch menschliche Gestalt, zur Erde reist, um Wasser für seinen vertrocknenden Heimatplaneten zu finden. Um den Plan umsetzen und ein Raumschiff für die Rückkehr bauen zu können, baut er ein milliardenschweres High-Tech-Unternehmen auf, erlangt Macht, Erfolg, Geld, scheitert aber schließlich, geschwächt von gesellschaftlichen Konditionen und einer pathologisch anmutenden Liebesbeziehung, an der Oberflächlichkeit und Brutalität der menschlichen Zivilisation. Ein weiter, imaginativer Geist, der sich mit Alkohol und TV durch den Tag hilft, enttarnt, weggesperrt, in sich selbst gefangen auf dem fremden Planeten Erde.

Silberglanz
„Lazarus“, die Fortsetzung dieser Geschichte, geschrieben von Bowie mit dem irischen Dramatiker Enda Walsh, hatte offizielle Premiere in Anwesenheit Bowies am 7. Dezember '15 in New York, einen Monat vor seinem Tod. Seine finale Krebsdiagnose kannte er schon seit 18 Monaten.

„Look at me I'm in heaven / I've got scars that can't be seen / I've got drama can't be stolen / Everybody knows me now.“

30 Jahre sind vergangen, im Skript wie im Echt. Newton ist erschöpft, buchstäblich außer sich. Das Unterbewusste ist sein Lebensraum, die Unterscheidbarkeit von Wahn und Wirklichkeit obsolet: „In meinem Kopf, es ist alles nur in meinem Kopf!“, ruft er hilflos. Nichts ist mehr, was es mal gewesen sein könnte. Ein hinkender, mephistophelischer Mörder in Lack und Leder namens Valentine singt „Valentine's Day“. Erinnerungen an wirres Zeug. Schuld, mentale Wrackteile. John & Yoko. Tod und Hoffnung. Eine silberglänzende junge Frau verspricht – Erlösung? Newton bereitet sich auf's Sterben vor. Verabschiedet sich. „Wie isser denn so?“ „Er ist irgendwie unglaublich traurig, irgendwie unnahbar. So, wie man sich 'n reichen, zurückgezogen lebenden Exzentriker eben vorstellt.“

Alexander Scheer, Tilman Strauß, Foto: (c) Arno DeclairAlexander Scheer, Tilman Strauß, Foto: (c) Arno Declair

Viel Songapplaus für die erstklassige Band, in halblanger Glitzerfashion wie Bowies '70er Backingband The Spiders From Mars auf der Bühne (u.a. mit Bernadette La Hengst an der Leadgitarre, Bernadette La Ronson, wenn Sie wissen...). Wendig, druckvoll, präzise ohne Seelen- und Lustverlust, kompetent in jeder Richtung, verschafft die multiinstrumentale Rock-Besetzung den großen und diversen Bowie-Songs bei korrekter Einhaltung der oft radikal neuen Arrangements (Henry Hey) Leib und Seele. Den rostig schimmernden "Dirty Boys“ einer fantastischen, ambient verhangenen Version von "This Is Not America". Das hymnische „All The Young Dudes“, „Changes“, „Life On Mars?“. Eine niederschmetternde Kurzversion von „Lost Is Love“, die skeptische Pracht von „Absolute Beginners“. Der Abschluss ist „Heroes“ als fragile Ballade, die, ohne die charakteristische Basslinie und singende E-Gitarre des Originals, einmal mehr die substanzielle Qualität eines Bowie-Songs deutlich macht. (Schade und inkonsequent insofern, den Song nach Appläusen und Verbeugungen doch noch im Originalarrangement dranzuhängen, als Zugabe wie einen Gute-Laune-Rausscheißer; wird nichts und niemandem gerecht.)

Sachiko Hara, Jonas Hien, Tilman Strauß, Nina Wollny, Foto: (c) Arno DeclairSachiko Hara, Jonas Hien, Tilman Strauß, Nina Wollny, Foto: (c) Arno Declair

Sehr gute und exzellente Sänger*-/Schauspieler*innen allenthalben, laut und leise, male & female, ausdrucksstark, glaubhaft, komisch, mit Selbstverständnis, Luft und emotionalem Spektrum, die das Individuum im Publikum erreichen. Neben Scheer stechen vor allem Tilman Strauß (Valentine), Yorck Dippe (Michael) und Juliane Wieninger als Elly heraus, Letztere mit einer großartigen, zwischen Schenkelklatscher und Selbstfindungsdrama gespielten Metamorphose vom gehemmten grauen Kassenbrillen-Heimchen zum Paradiesvogel. Wirklich: Irre.

Nächste Vorstellungen:

14. + 15. 09. 2019
26. + 27. 12. 2019

Wird fortgesetzt.

Tickets, Fotos und mehr über Band und Ensemble: www.schauspielhaus.de

Rolf Jäger
Rolf Jäger
Geb. 1958, freischaffender Teilzeit-Journalist im Großraum Kultur - Musik, Film, bildende Künste, Literatur. Professioneller Musikjournalist 1996-2006 (Intro, Jazzthetik, Rolling Stone, LN, Badische Zeitung u. noch paar a.m.), Kulturschaffender bei www.wolkenkuckucksheim.tv, Gitarrist seit kurz nach Konfirmation.

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