Foto: Potsa Lotsa und Thomas Krüger, (c) Herbert Weisrock

Kurt Schwitters' „Ursonate“ auf Kampnagel
Klartext

Kurt Schwitters' „Ursonate“ mit musikalischer Fortschreibung Kampnagel, Hamburg. Das Dada-Lautwerk in besonderer Ausführung. Doch zunächst piepte es und pfiff.

Vogelstimmen im Raum, Wald-Atmo im postindustriellen Ambiente des KMH, einer der kleinen Hallen des Kampnagel: adäquat surreal und heiter vor der Aufführung von Schwitters' dadaistischem Lautgedicht, entstanden 1923-32 mit einem Vokabular aus archaisch wirkenden, abstrakt worthaften Lautfolgen jenseits von Begriff und Bedeutung. Alles erfunden. Sprache ohne Konsens, Form ohne Inhalt. Reine Kunst. Ein Text mit unbegrenztem Interpretationspotenzial, der via Dynamik, Sprechmelodie, Akzentuierung, Kunstpause et al der absoluten Sinn- und Zweckbefreitheit in seinem Kern Ausdruck verleiht. So soll es sein, diese Kunst ist dadaistisch, hat zum Ziel, Werke zu erschaffen, denen jede Form von Sinn außerhalb ihrer selbst zu fehlen hat. Ein programmatisches Muss also, eine inszenierte Panne, dass die Informationen des mikrofonlosen Moderators von den Musikern, noch offstage, in die Unhörbarkeit gepustet wurden (Ausnahme: Spendensammlung für die Erdbebenopfer in Syrien und der Türkei).

Aus dem Hals

„Rinnzekete bee bee nnz rrk müüüü, ziiuu ennze ziiuu.“ Sagt Thomas Krüger, ex-Bürgerrechtler und DDR-Sozialdemokrat, '91-94 Senator für Jugend und Familie in Berlin, MdB, Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung, des Deutschen Kinderhilfswerks, mit dadaistischem Gewissen und dem Stimmklang eines Sprechers, der meint, was er sagt und weiß, was er meint, auch wenn obwohl. Krüger hat die „Ursonate“ schon '86 in ihrem Originalformat als halbstündiges a-cappella-Sprechstück in Leipzig rezitiert, und tut es seit 2016 mit der Musik der Posaunistin, Komponistin und Arrangeurin Anke Lucks. Lucks, die mit unterschiedlichsten Ensembles (Bonecrusher, der Insomnia Brass Band, Shmaltz) und innovativen Jazz-Größen wie Albert Mangelsdorff (pos), Anthony Braxton (sax u.a.) und dem jungen US-Drummer Tyshawn Sorey gearbeitet hat, ist eine Komposition gelungen, die Schwitters' rhythmische Partitur konterkariert, ohne zu de-interpretieren oder konservativ sinnfällig zu verstopfen. 

Dabei kann sie sich auf die musikalischen Ausnahme-Kräfte der vier Kernmusiker*nnen des Bläser-Ensembles Potsa Lotsa verlassen: Silke Eberhard (a-sax), Patrick Braun (t-sax), Nikolaus Neuser (tp) und Gerhard Gschlößl (pos) realisieren spielerisch wie spieltechnisch eine Mischung aus Anarchistik und Scheitel mit Brille im Anzug. Ein anbetungswürdiges Sax-Solo, warme, sauber realisierte 5-stimmige Sätze unweit Carla Bley, die nach weniger Takten  dematerialisieren, zusammenkrachen, bevor im folgenden Improv-Teil Posaunist Gschößl seinem Instrument den Zug bis zum Boden aus dem Hals zieht und mit Trompeter Neuser minutenlang die Dämpfer auf den Bühnenboden haut, zum Vergnügen ihrer grinsenden Mitmusiker. Dem Bierernst eitler Jazzmusiker, die vor allem an der glühenden Bewunderung ihrer Fähigkeiten interessiert sind, könnte die Band nicht ferner sein. Man darf lachen bei dieser Kunst, könnte mitunter eh nicht anders. Leadvokalist Köster insistiert, deklamiert, schmiert und knattert sich kompromisslos durch die Lautwelt, flötet Umlaute, kriegt Sound und Fische dazwischen, Huptöne, Entenlaute, eine wie von (John) Zorn zerrissene Bluesphrase, eine backing-vocal-hafte Repetition von der Band („pögiff!“), und kommt zum Punkt: „kwii Ee.“ Ein Ende muss das alles nicht haben, Nachhall im Kopf hält eine Weile an.

Dadanach

Kurt Schwitters, *1887 in Hannover, † 1948 in Kendal/UK, gilt als einer der einflussreichsten Künstler des 20. Jahrhunderts. Als Maler und Skulpteur, Raumkünstler, Dichter, Werbegrafiker schuf er ein dadaistisches „Gesamtweltbild“ mit dem Namen Merz – eine Silbe aus konkreten Begriffen wie Kommerz, ausmerzen, Nerz u.a., freigestellt und in eine Art Neo-Nomen umgewandelt, das als solches nicht von irgendeiner anderen Bedeutung oder Festschreibung besetzt war. Merz, das stand und steht allein für Kunst, die den Surrealismus und die prinzipiellen Grenzen des tendenziell destruktiven Dadaismus per Freigeist überwand. Anders als etwa Hans Arp und Hannah Hösch, mit denen Schwitters auch gearbeitet hatte, wollte der seine Kunst als aufbauend verstanden wissen, sah sie als „absolut individuellen Hut, der nur auf einen einzigen Kopf paßt“ – auf seinen eigenen.

Foto: Thomas Krüger, (c) Herbert WeisrockFoto: Thomas Krüger, (c) Herbert Weisrock

Das, wenn man so willl, war eine positive Fehleinschätzung, erkennbar gerade an der „Ursonate“, an der Akzeptanz und Beliebtheit dieses penibel losgeschraubten Meisterwerks, das Schwitters selbst „ ... meine umfassendste und wichtigste dichterische Arbeit“ nannte. Die '93 als „Original Performance by Kurt Schwitters“ erschienene CD hat tatsächlich Schwitters' Sohn Ernst eingesprochen; Versionen und Interpretationen anderer mit anderen Ansätzen über die Jahre verdeutlichen den Einfluss Schwitters' über die Grenzen der Kunst hinweg, in Bereiche z. T., die man nicht vermuten würde, Flötist Eberhard Blum (Morton Feldman, John Cage) etwa. Fagottist Alexander Voigt veröffentlichte 2004 eine CD mit dem Titel „Alexander Voigt spricht / spielt / bläst / röhrt / rappt und zelebriert DIE URSONATE von Kurt Schwitters“. Auf „What A Beauty“ aus dem gleichen Jahr legen die drei Sprecher*nnen des Ensembles Schwindlinge musikalische Gestaltungsprinzipien via Interpretation offen, die Schwitters zur Sprachformung adaptierte. Freejazz-Größe Willem Breuker veröffentlichte '86 eine LP des holländischen Sängers und Klangpoeten Jaap Blonk. NL-Liedermacher Hermann van Veen legte in seiner Blütezeit (ca. '80) die aufgeblasene Attitüde vieler Politiker beim Redehalten mit einem selbstverfassten Lautetext im Schwitters-Sound bloß, präzise und ohne ein einziges verständliches Wort, mind you.

Dann ist da noch die Kurzfassung der Sonate des englischen Jazzsängers und Autoren George Melly, Insider-Kult-Klassiker vom viel zu wenig bekannten Compilations-Album „Miniatures“ (1980, 51 Tracks von jeweils einer Minute Spieldauer oder darunter), mit dem Titel „Sounds That Saved My Life (Homage to K.S.)“. Laut Linernotes trat Melly, ein Mann mit rauer, knarrender Stimme ohne Umlaute, damit einer Gruppe Betrunkener auf der Straße entgegen, die ihn angriffen: „Fumms bo taa saa uu pr giff / kwii ee! / Oooooooooooo! / ( … ) / Tulf mulf too kaa / ( … ) / Siem siem hmpf skrr muu!“ Und so weiter. Die blauen Jungs gingen laufen.

Pfeifen und Piepen

Einer durch Notizen u. a. Aufzeichnungen Schwitters' indizierten Theorie zufolge soll Schwitters im Exil beim Familienurlaub auf der lütten norwegischen Insel Hjertøya mit lauter Stimme Anteile der Sonate in die Vogelschwärme gerufen haben, Stare vor allem, die zu den besten Imitatoren unter den Singvögeln zählen. Eine schöne Vorstellung, dass die Vögel das zweckbefreite Laute-Vokabular übernommen und integriert haben und nun ständig die „Ursonate“ zitieren, mit ihr kommunizieren. Was erneut auf die Frage, ob das Leben die Kunst imitiert oder die Kunst das Leben, nur eine Antwort zulässt: Ja!





Rolf Jäger
Rolf Jäger
Geb. 1958, freischaffender Teilzeit-Journalist im Großraum Kultur - Musik, Film, bildende Künste, Literatur. Professioneller Musikjournalist 1996-2006 (Intro, Jazzthetik, Rolling Stone, LN, Badische Zeitung u. noch paar a.m.), Kulturschaffender bei www.wolkenkuckucksheim.tv, Gitarrist seit kurz nach Konfirmation.

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