Susanne Höhne (Merteuil), Michael Fuchs (Valmont), Foto: Falk von Traubenberg

Heiner Müllers „Quartett“ im Theater Lübeck
Die Treue als wildeste aller Ausschweifungen

Sehr geheimnisvoll, auch faszinierend beginnt Lübecks letzte Studioinszenierung, Heiner Müllers „Quartett“, 1980 verfasst.

Der rechteckige, erhöhte zudem kahle Spielraum hat durchsichtige Wände, durch die man auf eine zweite, hintere Wand blickt, dazwischen auf Bühnenniveau ein Gang. Anfangs öffnet sich in der Mitte des Bodens eine Art Verließ, aus dem heraus sich ein amorphes Etwas rollt, weiß umhüllt. Langsam erkennt man eine Frauengestalt, ganz deutlich dann, wenn das Tuch von ihr abgezogen wird. Das besorgt eine zweite Figur, ein Mann. Merkwürdig pedantisch legt er es zusammen und verstaut es ordentlich unter dem Bühnenboden. Wenn beide aus dem Untergrund herausgestiegen sind, sieht man ihre Kleidung. Fast identisch ist die in einem nichtssagenden hellen Beige. Barfüßig sind beide und tragen zu weiten Hosen oben eine Art Korsage, die sie eng einschnürt. Ihre Gesichter und Haare sind perückenhaft gepudert.

Man sucht nach einem Bezug: Sind sie Zombies, gar eckzahnlose Vampire oder modern gekleidete Mumien? Dann wäre das Tuch eine Art Kokon oder Leichentuch. Alles scheint geeignet, an Friederike Harmstorfs Regiekonzept heranzukommen. Oder soll das Grau der Puderung auf das Lebensalter der Protagonisten verweisen? Es könnte auch eine Anspielung auf das Ende der Perückenzeit sein, die Zeit der Vorlage für Müllers Zwei-Personen-Stück, das dennoch „Quartett“ heißt? Er, der in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wohl bedeutendste Dramatiker, hatte eine weltliterarische Quelle gewählt. Es ist der Briefroman „Gefährliche Liebschaften“ von Pierre Ambroise François Choderlos de Laclos, 200 Jahre älter als das Bühnenwerk, und dennoch auch heute noch wegen seiner perfiden Psychologie von Interesse. Häufig wurde deshalb die Intrigen-Story, aus dem „Ancien Régime“, der dekadenten Zeit vor der Französischen Revolution, schon verarbeitet, in Lübeck vor zwei Jahren an der Musikhochschule in einer Opernversion.

Susanne Höhne (Merteuil), Michael Fuchs (Valmont), Foto: Falk von TraubenbergSusanne Höhne (Merteuil), Michael Fuchs (Valmont), Foto: Falk von Traubenberg

Heiner Müller verkürzte das Geflecht der Hauptpersonen auf zwei, die aber in unterschiedlichen Rollen auftreten. Eine weitere Umdeutung erfolgte darin, dass er die wichtigsten Kontrahenten, die Marquise de Merteuil und den Vicomte de Valmont, gespielt von Susanne Höhne und Michael Fuchs, sich erst als Grauköpfe wiederbegegnen lässt, quasi altersweise, dennoch keineswegs geläutert. Die Lübecker Inszenierung geht weiter, macht aus ihnen Zombies oder Untote, „beseelt“ nur durch Rachegefühle. Das scheint darin begründet, dass bei Choderlos de Laclos der Vicomte bei einem Duell ums Leben gekommen ist und zum Romanende auch seine frühere Geliebte nicht mehr schön und reich ist.

Ist das Intrigenspiel bereits in der Romanvorlage verwirrend, verschärft Heiner Müller das noch mehr. Er lässt die zwei Protagonisten im Laufe der Handlung Geschlecht und Rolle tauschen, sie auch noch in andere Romanfiguren schlüpfen, in ihre Opfer, in die Objekte ihrer Begierden oder ihrer intriganten Schachzüge. Nicht genug ist das. Friederike Harmstorfs Regie schafft weitere Verwirrung. Ihr gewünschter Darstellungsstil ist durch eine vornehme Zurückhaltung bei jedweder äußeren Charakterisierung der Protagonisten geprägt. Weder durch Gestik oder Mimik noch durch Kleidung oder irgendwelche Accessoires bekommt der Zuschauer Hilfe. Er muss sich die Handlung allein aus dem Gesprochenen erschließen. Das ist nicht einfach, zumal die Regie immer wieder lediglich Geflüstertes zulässt, das oft nur für die Wand bestimmt ist.

Susanne Höhne (Merteuil), Michael Fuchs (Valmont), Foto: Falk von TraubenbergSusanne Höhne (Merteuil), Michael Fuchs (Valmont), Foto: Falk von Traubenberg

Heiner Müller wollte wie Choderlos de Laclos auf den moralischen Verfall verweisen, jeder auf den in seiner Zeit. Liebe wird auf Sex und reine Leiblichkeit reduziert, das Verhältnis der Geschlechter als Machtkampf gedeutet, bei dem körperliche, geistige, auch soziale Unterschiede pervertiert werden. Die Regie in Lübeck zwingt all das in den Dialog, in den verbalen Schlagabtausch, wobei die Handlungsweisen der Schauspieler, ihre Gestik und Mimik, puristisch funktionieren. So bewegen sie sich in einer Art Schreittanz umeinander, bei dem sie ihr heftiges, auch deftiges Wortgefecht dezent zurücknehmen. Die Vorwürfe, auf ihr ausschweifendes, verworfenes Leben bezogen, sind in Müllers Text bissig, auch ätzend. Hier aber wird alles in Spiel und Sprache sanft vorgetragen, alles Exzessive ausgespart. Da ist die einzige handgreifliche Zote, wenn der Mann, zu der Zeit in der Rolle einer Frau, seiner Partnerin zwischen die Beine greift, ein peinlicher Zwischenfall.

So wirkt das Geschehen, abgesehen vom Beginn, statisch, hätte gleichermaßen als Lesung vorgetragen werden können. Worauf nahm die Regie Rücksicht: auf die Darsteller? Die können mehr. Auf das Theater? Das muss, wenn solch ein Stück schon einmal ausgewählt wird, auch den Mut haben, den Text entsprechend bissig zu inszenieren. Auf die Zuschauer? Wer in ein Stück Heiner Müllers geht, erwartet mehr, vor allem nichts Banales wie Orgelmusik, wenn es ums „Sterben für eine gute Sache“ geht, oder ein formvollendetes Verweigern jeder expressiven Geste.

Arndt Voß
Aufgewachsen in Neumünster, in Lübeck seit 1959. Studium in Kiel und Hamburg (Musik- und Literaturwissenschaft). Ständige Mitarbeit an den Lübeckischen Blättern von 1974 bis 2014, Berichte und Kritiken darüber hinaus in einigen anderen Organen. Schwerpunktthemen: Musiktheater, Schauspiel, Konzerte.

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