Karin Nennemann (Anfissa), Sven Simon (Ferapont), Foto: Kerstin Schomburg

Anton Tschechows Familiendrama „Drei Schwestern“ in den Kammerspielen
Ein Leben zum Ersticken

Zwei Alte geistern durch die neueste Inszenierung am Theater Lübeck, ein Mann und eine Frau, Kinderfrau sie einstmals, er irgendwie ein Faktotum, beide im unauffälligen Altenbeige.

Sie sind mit dem Wissen der Alten belastet, angesammelt in langer Zeit, in der sie dienten, beistanden, weitgehend unbeachtet waren, geduldet nur in ihrem selbstverständlichen Einsatz. Dennoch halten sie einen Familienkörper über Jahre zusammen, weshalb sie von Lily Sykes zum Gerüst in der düsteren Familiensaga gemacht werden, die Anton Tschechow „Drei Schwestern“ nannte (Premiere: 17. Mai 2019).

Der Titel spart den Vierten im engen Geschwisterclan aus, den Bruder, Andrej mit Namen. Er lebt neben Olga, Mascha und Irina im väterlichen Erbteil, ist indes mit dem Dasein der Schwestern vor allem in der Art verankert, dass er ihre Hoffnung verkörpert, die auf ein (noch) besseres Leben fixiert ist, eines in Moskau. Die Konstellation spiegelt die Sozialverhältnisse, die Ergebenheit der Frau, die sie bis zum Ersticken einengt, und der Zwang zur Fürsorge für den Mann, wenn er dazu fähig ist. Eigentlich haben die Schwestern alles: ein großes Haus mit Bediensteten und ein gesellschaftliches Leben im Zentrum einer Stadt, die nur zu ihren Illusionen nicht passt.

Astrid Färber (Olga), Agnes Mann (Mascha), Sophie Pfennigstorf (Irina), Foto: Kerstin SchomburgAstrid Färber (Olga), Agnes Mann (Mascha), Sophie Pfennigstorf (Irina), Foto: Kerstin SchomburgOlga, die Älteste, hat als Lehrerin am Mädchengymnasium ein verlässliches Einkommen. Die Zweitgeborene, Mascha, ist mit Kulygin verheiratet, ihrem einst bewunderten Lehrer, und Irina, gerade 20 Jahre alt, darf als von allen Umworbene von allem träumen, vor allem von der großen Liebe. Andrej, der Bruder, soll dem Leben seiner Schwestern als Stellvertreter für den zu früh verstorbenen Vater neuen Glanz geben. Doch auch das hängt an einem Traum, an einer Professur in Moskau. Der zerstiebt und konfrontiert alle mit einer trostlosen Realität, die zudem eine Gestalt bekommt. Es ist die der Natascha, die als Braut des Bruders von den Schwestern zunächst noch gebändigt werden kann, die als seine Angetraute das familiäre Machtgefüge auf den Kopf stellt.

Das entwickelt Tschechow sehr konsequent in vier Akten, in einem psychologischen und gesellschaftlichen Gespinst subtiler Art. Er zeigt geschickt innere und äußere Parameter auf, die das Familienleben auf vielen Ebenen bestimmen. Was man in Lübeck zu sehen bekommt, läuft ab wie eine Groteske, voller innerer Widersprüche. Es ist ein absurdes Kabinett mit Figuren, deren Handeln demonstrativ ins Nichts läuft, die sich im Dialog darin überbieten, aneinander vorbei zu reden oder über nichts zu philosophieren. Unterhaltsam serviert Lily Sykes das, mit großem Geschick für zugespitzte Dialoge in komischen, manchmal slapstickartigen Szenen.

Astrid Färber (Olga), Sophie Pfennigstorf (Irina), Karin Nennemann (Anfissa), Agnes Mann (Mascha), Foto: Kerstin SchomburgAstrid Färber (Olga), Sophie Pfennigstorf (Irina), Karin Nennemann (Anfissa), Agnes Mann (Mascha), Foto: Kerstin Schomburg

Sie übernimmt den äußeren Ablauf der Vorlage, verändert das Geschehen dennoch in wesentlichen Punkten. Dass Theatertexte bis zur Unkenntlichkeit gekürzt, Figuren des Originals gestrichen werden, ist heute kaum erwähnenswert. Dennoch geschieht es hier auf besondere Art. Dass zwei der Leutnants fehlen, vermisst man nicht, nur etwas den ersatzväterlichen Militärarzt und Fatalisten Tschebutýkin, dem alles eins ist, nur nicht die längst verstorbene Mutter der Schwestern. Er würde immerhin eine andere Generation ins Personengefüge bringen. Anders ist es im Falle des Staatshauptmanns Soljony mit seinen skurril provokanten Einwürfen. Lily Sykes will ihn nicht ganz eliminieren, löst seinen Verbleib im Besetzungsregister sehr listig, indem sie allein das Akustische seiner Anmerkungen nutzt und das in pure Klänge oder Töne wandelt. So muss Jan Schöwer in dieser Rolle singen, Schall oder Geräusche produzieren, konsequent bis zu dem Moment, wenn Schöwer alias Soljony aufsteht und im Duell seinen Kontrahenten Tusenbach erschießt. Ein knalliger Einfall!

Seltener findet man in Inszenierungen, dass Figuren eingefügt oder aufgewertet werden. Hier sind es die beiden oben erwähnten Alten, die in der Art eines antiken Chores das Geschehen begleiten. Anfissa, das ehemalige Kindermädchen, und Ferapont, gibt es bei Tschechow nur dem Namen nach, bekommen hier ein völlig anderes Gewicht. Sie dienen als roter Faden, stehen dem hektischen Betrieb als kontemplative Ruhepole gegenüber. Auch diese beiden Figuren stimmen, wenn auch erfunden, passen sich in das Stück nahtlos ein. Zudem bekommen Karin Nennemann und Sven Simon es fertig, ihren Auftritten eine wunderbare Würde und Dichte zu geben.

Agnes Mann (Mascha), Astrid Färber (Olga), Sophie Pfennigstorf (Irina), Foto: Kerstin SchomburgAgnes Mann (Mascha), Astrid Färber (Olga), Sophie Pfennigstorf (Irina), Foto: Kerstin Schomburg

Die drei Schwestern haben Astrid Färber, Agnes Mann und Sophie Pfennigstorf übernommen. Jede auf ihre Weise intensiv und in einem belustigenden und permanenten Mit- und Gegeneinander. Es gelingt ihnen, im Spiel die Balance in den vielen affektierten wie expressiven Momenten zu halten und sie nicht zu überspitzen. Auch in der Diktion bietet diese Inszenierung Erfreuliches. Nur in wenigen larmoyanten Momenten versinkt der Text im Geplärre. Die Rolle der neuen Herrscherin im Hause, die der Natalja, staffiert Rachel Behringer mit einigen schrillen Tönen aus, unterstützt durch den schräg-schönen Mantel (Kostüme: Ines Koehler-Klünenberg), der sie wie ein rotes Ausrufezeichen in die obskure Familienidylle einbrechen lässt.

Die Männer haben es leichter, weil keiner wirklich handeln muss. Vinzenz Türpe mimt hübsch devot und verhuscht Andrej, den Bruder. Er muss nur einmal Fahrt aufnehmen, wenn er sein Dreipunkte-Referat vorträgt für Frau, berufliche und finanzielle Eigenorientierung. Jan Byl bleibt Maschas Mann, mit oder ohne Bart, in treuer und vergebender Liebe bereit. Den gefühligen Schwerenöter Werschinin, der sich nie verausgaben muss, zeichnet Matthias Herrmann mit sanften Tönen. Und Will Workmann schließlich gestaltet seinen unmilitanten Oberleutnant Tusenbach so undramatisch wie ernst, auch wenn er im Duell um Irinas Gunst tragisch verliert.

Sophie Pfennigstorf (Irina), Will Workman (Tusenbach), Astrid Färber (Olga), Vincenz Türpe (Andrej), Matthias Hermann (Werschinin), Jan Byl (Kulygin), Agnes Mann (Mascha), Karin Nennemann (Anfissa), Sven Simon (Ferapont), Foto: Kerstin SchomburgSophie Pfennigstorf (Irina), Will Workman (Tusenbach), Astrid Färber (Olga), Vincenz Türpe (Andrej), Matthias Hermann (Werschinin), Jan Byl (Kulygin), Agnes Mann (Mascha), Karin Nennemann (Anfissa), Sven Simon (Ferapont), Foto: Kerstin Schomburg

Das Stück hat durchweg ein hohes Tempo, ist sehr quirlig inszeniert, begünstigt durch Lena Schmids durchsichtiges Gebilde auf der Drehbühne. In Umrissen skizziert es ein herrschaftliches Haus mit Räumen in mehreren Ebenen und einem im Zentrum aufragenden Turm. Ihn versuchen Birken im Hintergrund zu überragen und etwas von russischer Landschaft vorzugaukeln.

Das Stück hat ein hohes Tempo bekommen, flackert aber im letzten Akt durch die abgeblendeten Kurzszenen zu nervös. Dennoch war der kräftige Applaus gerechtfertigt. Die Inszenierung und die Schauspieler hielten die Spannung.

Arndt Voß
Aufgewachsen in Neumünster, in Lübeck seit 1959. Studium in Kiel und Hamburg (Musik- und Literaturwissenschaft). Ständige Mitarbeit an den Lübeckischen Blättern von 1974 bis 2014, Berichte und Kritiken darüber hinaus in einigen anderen Organen. Schwerpunktthemen: Musiktheater, Schauspiel, Konzerte.

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