Ein kleines Opernhaus wie das Lübecker kann manches nicht allein stemmen. Kooperation ist der Ausweg, will es das Außergewöhnliche bieten wie zum Beispiel Modest Mussorgskys Genietat „Boris Godunow“. Aber es ist ein Werk, das viel verlangt bei der Besetzung, vielleicht mehr noch bei der szenischen Realisation wegen seiner zahlreichen Rollen und großen Chöre.
Das Szenische zu packen, halfen das Staatstheater Nürnberg und die GöteborgsOperan. Alle drei verwirklichten das gleiche Regiekonzept. Es stammt von keinem Geringeren als Peter Konwitschny, dem häufig Ausgezeichneten, zuletzt 2018 von der „Opernwelt“ als Regisseur des Jahres. In Lübeck hatte er vor knapp drei Jahren schon einmal für Furore gesorgt, als er Macht und Machtgebaren von Herrschenden hinterfragte und in kindisches Getue wandelte. Verdis „Attila“, ein anderer Bühnenheld aus der historischen Despotengarde, diente ihm damals als Modell. Jetzt sollte es „Boris Godunow“ sein, um nach Jahrzehnten einmal wieder der Frage nachgehen zu können, hat Boris nun oder hat er nicht den Zarewitsch gemordet.
Den im Drama notwendigen Konflikt entwickelt Konwitschny aus dem Gegensatz zwischen der Hauptfigur, die sich das Volk wegen versprochener Wohltaten als Zar wünscht, und einer Gegenpartei, die in Boris einen kindsmordenden Usurpator sehen will und eifrig Gegenkandidaten in Szene setzt. Das Spiel ist verwirrend, weil keine Seite stichhaltige Argumente bringt, und soll hier auch nicht aufgedröselt werden. Das will auch die Regie nicht. Sie macht stattdessen auf die unterschiedlichsten Interessen aufmerksam, auf die der Bojaren zum Beispiel, die um ihre Macht bangen, auf die Mönche, die ihre „Geheimnisse“ verteidigen, oder auf die des Volkes, das nur eines will, gut leben. Wie Boris auf den Thron kam, ist ihm schlicht egal.
Dem musikalischen Epos aus dem alten Russland fehlt im Gegensatz zu „Attila“ allerdings vor allem als ein handlungstragendes, zugleich bewegendes Element die Liebe, die in der italienischen Oper so schön besungen wird. Aber das liegt daran, dass Konwitschny - gut begründet - seine Bühnenschau aus der ersten, der ursprünglichen Fassung der Oper von 1869 entwickelt hat. Deren Musik ist ungewöhnlich, und das nicht nur aus historischer Sicht. Sie nimmt gefangen, passt erstaunlich gut zur holzschnittartigen Handlung. Und wenn sie dann noch adäquat gestaltet wird wie in Lübeck, kann sie all ihre Eigenart faszinierend entwickeln. Dieser Fassung wird heute vielerorts Respekt gezollt, denn sie ist noch frei von allen Zutaten, den Opernbetrieb und Publikum vermeintlich wünsch(t)en, vor allem aber frei von Rimsky-Korsakows sinnfälliger, aber glättender Instrumentation.
An drei Orten also Gleiches? Nein, zumindest in Lübeck nicht, wo nicht nur das Personal ausgetauscht und neu einstudiert wurde. Erstmalig nutzt Konwitschny eine andere Bühnensprache. In Nürnberg (Oktober 2016) und Göteborg (April 2018) wurde wie im Original russisch gesungen, während für Lübeck (Premiere: 25. Januar 2019) eine Übersetzung der Theaterwissenschaftler Bettina Bartz und Werner Hintze entstand. Beide arbeiten schon jahrelang mit Konwitschny zusammen, so dass ihr Libretto die Regie hautnah unterstützt.
Das Grundkonzept der Inszenierungen blieb. Das Volk auf der Bühne saß (wie das im Zuschauerraum) in einem Kaspertheater. Die Puppen standen für die derben Charaktere der Machthabenden oder ihrer Vasallen, per Hand vorgeführt von den Sängern. Als Typen waren der Polizist (agil Tim Stolpe) dabei, der arglistige Fürst Schuiski (mit tollem Tenor Alexander James Edwards) und der Geheimschreiber Schtschelkalow (zuverlässig und klangvoll wie immer Steffen Kubach). Selbst die Schlange kam, die falschen Lobsänger zu fressen. Lebendig und sorgfältig gestaltet waren dazu die Massenszenen. Es war ein abgerissenes, willenloses Volk im Wodkarausch. Mit zunehmendem Wohlstand wandelt der sich zum Kaufrausch. Die Kritik an den Machtstrukturen weitete sich so zur Gesellschaftskritik.
Drastische Bilder fand der Regisseur. Physisch setzte er die Geschichtsklitterung durch Pimen (grandios Dennis Velev) in Szene, wenn der seine Sicht auf die Taten von Boris den Mönchspartisanen in die Haut ritzt. Äußerst lebendig, dabei mit feinen Anspielungen auf Vorheriges in Bühnenbau und Kostümen (Timo Dentler und Okarina Peter) war die Szene im Wirtshaus mit den militanten Mönchen Warlaam und Missaïl (mit markanter Gestaltung Minhong An und Hojong Song) sowie der Schenkwirtin (expressiv gestaltet von Julia Grote) und dem Zarenverschnitt Grigori (imponierend Tobias Hächler).
Das Lübecker Opernensemble ist klein, dafür vielseitig. Die große Anzahl der Rollen konnte dennoch gesanglich und spielerisch mit wenigen Gästen und Mitgliedern aus dem Opernelite-Ensemble bemerkenswert gut besetzt werden. Die oben Genannten sind die Sänger der zweiten Aufführung (2. Februar), die der erste Kapellmeister Manfred Hermann Lehner dirigierte. Überzeugend war, wie er Bühne und das klangvolle Orchester zusammenhielt, sogar überraschend dezent begleiteten ließ, nie die Stimmen überdeckte. Jan-Michael Krüger hatte den verstärkten Chor einstudiert und Gudrun Schröder den Kinder- und Jugendchor Vocalino.
Dieser „Boris“ hatte überzeugt. Langer Beifall bewies das.