Heiner Kock, Foto: Kerstin Schomburg

Das Leben vom Blut der anderen
„Die tonight, live forever oder Das Prinzip Nosferatu“ in den Kammerspielen

Es gibt sich höchst geheimnisvoll, auch faszinierend, was seit dem 30. November 2018 im Theater Lübeck als Kammerspiel zu sehen und zu hören ist.

Es trägt den zweisprachigen Titel „Die tonight, live forever oder Das Prinzip Nosferatu“ und verbindet Schauspiel und Tanz. Der Text ist eine durch eine Kulturstiftung des Bundes geförderte Auftragsarbeit, vergeben an Sivan Ben Yishai, 1978 in Tel Aviv geboren. Seit einigen Jahren lebt die Dramatikerin in Berlin, bezeichnet das Hebräische als Muttersprache, ist des Deutschen mächtig, formuliert lieber auf Englisch, „wenn es ihr auf Präzision ankommt“ (aus einem Porträt der „Zitty“). Das kann immerhin den ersten Teil des Titels erklären. Dennoch muss der Text hierzulande ankommen. Darüber wacht die Autorin stets, auch bei dieser Übersetzung, die die Lyrikerin Maren Kames schuf. 1984 ist sie in Überlingen geboren, lebt ebenfalls in Berlin.

Der zweite, der deutschsprachige Teil des Titels klingt eher nach Abhandlung und bereitet dadurch auf allerhand Gedankenfracht vor. Den Eindruck unterstützen Anja Sackarendts wortreiche Beiträge in Vorankündigungen, im Pressegespräch oder der Kostprobe, auch im Programmheft. Dort erfährt man, dass sie, die Leitende Schauspieldramaturgin, sich zusammen mit Schauspieldirektor Pit Holzwarth vorgenommen habe, „mit einem gemischten Ensemble aus Tänzer*innen und Schauspieler*innen die Vampire der Gegenwart kulturkritisch und körperpolitisch“ zu untersuchen. Das führte zu Friedrich Wilhelm Murnau, der sich vor knapp 100 Jahren damit beschäftigte und seine Figur Nosferatu nannte. Für seinen Stummfilm nutzte er bekanntlich einige Ecken in Lübeck als Kulisse und wird seitdem gerne und in letzter Zeit immer mal wieder gezeigt.

David Ledger, Chloé Beillevaire, Andreia Rodrigues, Niko Eleftheriadis, Sophie Pfennigstorf, Will Workman, Astrid Färber, Foto: Kerstin SchomburgDavid Ledger, Chloé Beillevaire, Andreia Rodrigues, Niko Eleftheriadis, Sophie Pfennigstorf, Will Workman, Astrid Färber, Foto: Kerstin Schomburg

Dem Zelluloid-Wesen fehlt allerdings immer noch die Sprache, die einfach nachzubereiten nun wirklich zu einfach gewesen wäre. So suchte man nach mehrdimensionaler Deutung. Hilfe fand sich wieder in der Regisseurin Marie Bues und der Choreografin Nicki Liszta. Beide sind zunächst mit Stuttgart verbunden, die erste als Intendantin des freien und experimentellen „Theater Rampe“, die zweite als Gründerin (2005) und Choreografin der Tanzgruppe „backsteinhaus produktion“. Beide haben allerdings in Lübeck auch schon Elfriede Jelineks „Licht im Kasten“ aufbereitet, auch da zusammen mit Claudia Irro (Bühne und Kostüme). So kam mit Autorin und Dramaturgin ein vampirgruselbegeistertes Damenquintett zusammen, das sich dem Mythos der Untoten vielseitig hingab. Ergänzt wurde das Team durch Heiko Giering (Musik) sowie durch Christopher Bühler und Katharina Squida-Jabbouti (Videosequenzen).

Der Titel des Stückes verrät, dass es in dieser Uraufführung um die Wiederbelebung Nosferatus‘ geht, des Alter Egos von Dracula. An ihm sollen Züge gesucht und erkannt werden, die in unserer Welt Untotes, das existentielle Wesensmerkmal der Vampire, erkennen lassen. Die Suche danach ist der Autorin gründlich gelungen. Vieles in unserer Welt, von Rastlosigkeit bis Genusssucht, von Ein- und Ausgrenzung durch Besitzgier und Vollkommenheitswahn bis zur Selbstkasteiung, von intellektueller und moralischer Verantwortungslosigkeit bis zu körperlichen oder geistigen Seuchen findet sich manches als Motiv bei Murnau und wird hier in beunruhigende, teils glänzende, teils artistische Sprachkaskaden verwandelt.

Niko Eleftheriadis, David Ledger, Rachel Behringer, Sophie Pfennigstorf, Chloé Beillevaire, Will Workman, Andreia Rodrigues, Steven Chotard, Heiner Kock, Foto: Kerstin SchomburgNiko Eleftheriadis, David Ledger, Rachel Behringer, Sophie Pfennigstorf, Chloé Beillevaire, Will Workman, Andreia Rodrigues, Steven Chotard, Heiner Kock, Foto: Kerstin Schomburg

Murnaus Lichtspiel taucht immer mal wieder in direkten Bezügen auf, wenn etwa von Wisborg, einer nördlichen Hafenstadt, die Rede ist. Ein Makler will dort für einen Vampir eine Wohnung suchen und findet sie in den damals verkommenen Salzspeichern, in Lübeck also. Auch das neue Stück beginnt damit, dass ein Makler (als Gast gewichtig Niko Eleftheriadis) aus dem Publikum hervortritt und sich mit anderen „Kunden“ unterhält, die Wichtigkeit seines Tuns wortreich ihnen und sich selbst beweist.

Doch Sivan Ben Yishai hebt das aus dem Historischen heraus, will zeigen, dass der Makler selbst zum Vampir mutiert ist, der seine Kunden aussaugt, von ihrem Blut lebt. Es geht eben um das Prinzip Nosferatu, nicht um ihn selbst, auch nicht um Ellen, im Film die junge Ehefrau des Maklers (brillant Rachel Behringer). In einer der großartigsten Szenen skandiert sie in einem schaurig schönen Tüllkleid ihre Verzweiflung darüber, wie Selbstanforderung und die ihrer Mutter (kühl und überlegen Astrid Färber) sie treiben. In der irrwitzig schnell gesprochenen Klagekaskade wird das Getriebensein selbst zur Metapher.

Rachel Behringer, Steven Chotard, Will Workman, Astrid Färber, Heiner Kock, Chloé Beillevaire, Foto: Kerstin SchomburgRachel Behringer, Steven Chotard, Will Workman, Astrid Färber, Heiner Kock, Chloé Beillevaire, Foto: Kerstin Schomburg

Personal und Handlungsstränge werden also nicht direkt übernommen, sind aber erkennbar. Ellen wird in zwei Körper aufgeteilt, bekommt später, durch Motorradhelm und -anzug unkenntlich (bewundernswert Sophie Pfenningstorf), die Gestalt der durch den Biss infizierten Untoten. Auch hier symbolisiert Kleidung und hohle Sprache aus dem Helm, zudem die szenische Gestaltung die Gefahr der rasanten Fortbewegung, damit das Schweben zwischen Leben und Tod, groteskerweise die Chance, nach Organentnahme weiterzuleben.

Ein Letztes sei erwähnt. Mit Nosferatu kam die Pest, durch Ratten und anderes Ungeziefer übertragen. Der Weg über Biss und Mückenstich assoziiert Krankheit und Seuche und ruft das Bild der Transfusion herbei, womit des weiteren Tumore und HIV-Virus, die Seuchen unserer Zeit, auch dramatisches Gewicht bekommen (intensiv auch Heiner Kock und Will Workman). Sivan Ben Yishai gelingt es, durch diese Bild- und Gedankenketten einen sehr dichten Text zu weben. Sprach- und bildmächtig ist er, geheimnisvoll und drastisch, teils auch kabarettistisch pointiert.

Steven Chotard, Chloé Beillevaire, Will Workman, Foto: Kerstin SchomburgSteven Chotard, Chloé Beillevaire, Will Workman, Foto: Kerstin Schomburg

Spannend ist das in Worten, auch im Agieren. Gerade die Tänzer (Chloé Beillevaire, Andreia Rodrigues, Steven Chotard und David Ledger) bringen an Ästhetik das zurück, was die Unwirklichkeit der divergenten Kostüme und die verschiebbaren Bühnenbilder zersetzen. Ihre Bewegungen begleiten, erweitern oder kontrapunktieren als artifizielle Technik das Dargestellte und füllen dort, wo Worte zweidimensional bleiben, den Raum mit vehementer Aktion. Ihnen gelingen bewundernswerte Bilder voller Kraft und Eindringlichkeit zu einer Musik, die wenig rhythmisch die Zeit strukturiert, dafür Atmosphärisches einfängt. Die Kraft dazu haben auch die Bühnenbilder, zunächst die nur durch eine Klappe durchlässige Glaswand, die zwei Welten trennt. Später ist es eine Wand, die zu durchdringen sich die Akteure abmühen. Im letzten Teil wird sie, umgekippt, zu einer riesigen Art Petrischale, ein medizinisches Versuchsfeld mit Lebenden oder Toten oder der in einem Dazwischen.

Das Stück erhielt großen Beifall, vor allem für seine szenische Eindringlichkeit, entließ die Zuschauer jedoch in einem Zustand zwischen Überzeugtsein und Ratlosigkeit.

Arndt Voß
Aufgewachsen in Neumünster, in Lübeck seit 1959. Studium in Kiel und Hamburg (Musik- und Literaturwissenschaft). Ständige Mitarbeit an den Lübeckischen Blättern von 1974 bis 2014, Berichte und Kritiken darüber hinaus in einigen anderen Organen. Schwerpunktthemen: Musiktheater, Schauspiel, Konzerte.

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