Agnes Mann (Grace), Foto: Kerstin Schomburg

Lars von Triers „Dogville“ in den Kammerspielen
Eine Stadt, die es besser nicht gäbe

Die Nordischen Filmtage sind vorbei. Das Theater Lübeck spult nach und vermeidet mögliche Entzugserscheinungen. Es zeigt „Dogville“, das Filmereignis des Dänen Lars von Trier, als Kammerspiel, nicht mehr an die Wand geworfen, sondern dreidimensional.

Was 2003 in den Kinos „frenetisch gefeiert“ wurde (s. Programmheft), erhielt nun in der Bühnenfassung seines Landsmanns Cristian Lollike (übersetzt von Maja Zade, Dramaturgin an der „Schaubühne“) begeisterten Applaus. Neun Kapitel und einen Prolog lang ist der Film, dauert im Kino knapp drei Stunden, wurde dennoch zum Kultfilm gestempelt. In den Kammerspielen werden nur pausenlose zwei Stunden und zehn Minuten bei unbequemeren Sitzen, bei überhitzter und verbrauchter Luft zu physischer Last, zehren an der Lust oder der Fähigkeit, die Worte zu erlauschen, insbesondere die bei dem so wichtigen, sehr intim geflüsterten Vater-Tochter-Dialog kurz vor dem bösen Finale. Dass Wortfetzen verloren gehen, mag lässlich sein, wird manchen Besucher bei der drastischen, überschaubaren Handlung nicht gestört haben. Eine Dramaturgin am Theater besänftigte schon in andrer Situation: „Man muss ja im Theater nicht alles verstehen.“

Das vielschichtige Personal der filmischen Vorlage wurde kräftig reduziert. Auch das spart Zeit, ist gedeckt zudem durch die Fabel, die nicht darauf aus ist, plastische Charaktere zu entwerfen. Deren Denken und Fühlen wird stattdessen vereinheitlicht oder gleichgeschaltet, wird ihnen bei Einwohnertreffen meditativ einsuggeriert. Sie wirken alle zunächst äußerlich freundlich, bis ihr boshaftes Inneres hervorbricht, früher oder später, sprachlich oder in Taten. Untereinander spielt sich nichts ab. Wiederum werden Worte gespart, denn allein die junge Grace steht im Fokus. Auf sie stürzen sich alle, nur ihre Leiden werden parabelhaft relevant. Anfangs kommt sie als Fremde nach Dogville, verfolgt von Gangstern. Sie wird in die Gemeinschaft aufgenommen und geschützt, scheint Freunde zu gewinnen, Freude zu bereiten und Hilfe zu leisten. Dann aber verkehrt sich alles. Immer mehr ausgenutzt, gequält und isoliert, sogar wie ein Tier angekettet und reihum vergewaltigt wird sie zunehmend ihres Menschseins beraubt. Der Grund dafür liegt in einer absurden Kosten-Nutzen-Bilanz nach der Formel Zuwendung gegen Dienstleistung. Das erinnert fatal an innere Beweggründe der aktuellen Fremdenfeindlichkeit.

Agnes Mann (Grace),  Johann David Talinski (Tom), Foto: Kerstin SchomburgAgnes Mann (Grace), Johann David Talinski (Tom), Foto: Kerstin Schomburg

Auslöser dieser Verkehrung ist in Dogville einer, der sich als Moralist aufführt, die Einwohner sogar damit ködert. Er merkt nicht, dass ihm das System entgleitet und die Aufrechnung sich zwangsweise zu Ungunsten von Grace verschiebt. Begründet wird das mit wachsender Gefahr für die Gemeinschaft und ist real doch nicht nachweisbar. „Fake“ als zeittypisches Schlagwort umschreibt das, was auch in Dogville jeder weiß. Aber dem Wissen entsprechend zu handeln, ist lästig, an dem Vorurteil festzuhalten, der Masse bequemer. Ein weiteres Movens ist, dass Grace aus Überforderung nicht mehr alles leisten kann, Fehler macht und dafür „zahlen“ muss. Das Schlagwort „Ausbeutung“ umreißt es. Ausgerechnet Tom, der Moralist, sucht schließlich Hilfe von außen, weil er aus Pflichtgefühl „die Dinge in Ordnung bringen“ will. Genau das führt in die Katastrophe. Es ist ihr Vater, der Grace die Augen öffnet und sie sagen lässt: „Wenn es eine Stadt gibt, ohne die die Welt ein wenig besser wäre, dann ist es diese.“ Ihre Auslöschung ist Graces so böse wie konsequente Tat.

Agnes Mann gibt ihr einfühlsam eine Gestalt zwischen Opferlamm und Hetäre. Nur im kurzen Prolog ist sie nicht auf der Bühne, prägt damit, weil alles auf sie bezogen ist, das theatralische Geschehen. Eine wahrlich große schauspielerische Leistung ist das! Neben ihr sind nur acht Rollen in der Lübecker Version besetzt. Tom ist darunter. Johann David Talinski zeichnet den angehenden Schriftsteller als staksigen, jugendlich unbedarften Idealisten, der viel mehr will, als er schafft, der Grace schützen will, vorgibt, sie zu lieben, und sie doch verrät. Dann ist da Liz, eine Frau, die sich zunächst als Freundin aufführt, Grace dann erbarmungslos quält. Brillant verkörpert Susanne Höhne diese Figur mit böser Energie, besonders eindringlich, wenn sie ihr den einzig persönlichen Besitz, ein paar Holzpuppen, zerstört.

Agnes Mann (Grace),  Susanne Höhne (Liz), Foto: Kerstin SchomburgAgnes Mann (Grace), Susanne Höhne (Liz), Foto: Kerstin Schomburg

Den grobschlächtigen Chuck, auf einen Außenseiter reduziert, und den unbedarften, fast naiven Ben spielen Jan Byl und Matthias Hermann. Zwei männliche Wesen sind das, die nur vage in der Gesellschaft verankert sind. Auch Andreas Hutzel ist dabei. Er gestaltet gleich zwei Figuren. Wie immer souverän ist er der blinde Jack McKay im Rollstuhl. Grace gewinnt sein Vertrauen, wird aber schließlich selbst von ihm missbraucht. In zweiter Rolle ist er ihr Vater und Gangsterchef, wirkt darin aber belanglos, als reiner Stichwortgeber. Dann sind da noch Robert Brandt und Henning Sembritzki, beide der in Lübeck grassierenden Mode unterworfen, Frauenrollen spielen zu müssen. Vor allem Brandt hat darin schon einige Routine. Kahlköpfig wird er zur Ma Ginger, die heuchlerisch durch die Szene geistert und sogar Grace sexuell bedrängt. Was nun, Mann oder Frau? Oder einfach nur grotesk wie Henning Sembritzki als bidere Martha, eine Mischung aus Gouvernante und Klosterbruder?

Clara Weydes Inszenierung formt ein pralles, jedoch zutiefst böses Kleinstadttheater, in dem sich eben jenes bösartige Verhalten einer Fremden gegenüber in grotesker Überhöhung abspielt und die gleichzeitig zum Symbol aller sozialen Bosheiten werden soll. Das Programmheft hat eine Unzahl parat. Neben schon Angedeutetem wie „Alltagsrassismus“ oder „kapitalistischen Tauschverhältnissen“ sind „Abgründe der menschlichen Psyche, Verlogenheit und Grausamkeit von Liebesverhältnissen und der Provinzialität in den Köpfen“ aufgezählt. Es soll viel geboten werden, für jeden etwas.

Agnes Mann (Grace),  Johann David Talinski (Tom), Foto: Kerstin SchomburgAgnes Mann (Grace), Johann David Talinski (Tom), Foto: Kerstin Schomburg

Vielerorts ist zu lesen, dass der Film durch Bertolt Brechts „Seeräuber-Jenny“ veranlasst ist. So liegt der Rekurs auf Brechts Episches Theater nahe, zumal die „Dreigroschenoper“ für das Frühjahr projektiert ist. Wer sich etwas mit Brecht auskennt, entdeckt wirklich manches, zudem in Eylien Königs Bühnenbild. Im Gegensatz zum Film ist es geradezu üppig. Zwar benutzt es nur einen Raum, der wie ein Gefängnishof mit einer Mauer umbaut ist, besitzt jedoch inmitten einen steinernen Torbogen, an dem eine Glocke hängt. Sie wird zum tiefgründigen Taktmesser. Über die Mauer wächst unheilschwanger die Natur herein. Auch die Kostüme von Julia Schiller legen sich nicht fest. So wird alles zum Hier und Überall oder Jetzt und Immerzu.

Das ist zugleich Stärke wie Schwäche der Inszenierung, die unterhält, aber nicht bedroht. Konsequent sogar der Schluss, der gemildert wird. Nach dem Prinzip pars pro toto stirbt nur einer, der Gegenspieler von Grace, die anderen fallen einfach um.

Arndt Voß
Aufgewachsen in Neumünster, in Lübeck seit 1959. Studium in Kiel und Hamburg (Musik- und Literaturwissenschaft). Ständige Mitarbeit an den Lübeckischen Blättern von 1974 bis 2014, Berichte und Kritiken darüber hinaus in einigen anderen Organen. Schwerpunktthemen: Musiktheater, Schauspiel, Konzerte.

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