Dominik Müller (Lung), Iuliia Tarasova (Seeschlange), Alexander Wilbert (Ben)

Der „Drachenreiter“ in einer Uraufführung im Großen Haus
Von Drachenfeuer und Koboldspucke

Auch unter Drachen gibt es edle und böse. Das weiß man zwar nicht erst seit Cornelia Funkes „Drachenreiter“. Aber die 1997 erschienene und millionenfach in aller Welt verkaufte Märchenerzählung (oder der Fantasyroman, wie es heute heißt) lässt all das aufleben, erzählt wunderbar von der mythischen Spezies der Kobolde und der Drachen.

Unsichtbar sind beide Arten für die Menschen, es sei denn, man war Schreiner Eder oder der heilige Georg. Dennoch tauchen sie überall auf, auch in Schottland, wo die Vorgeschichte fast realistisch beginnt. Ein Tal soll geflutet werden. Das jedoch ertränkt ihren Lebensraum. Nur wissen die Planer des Projekts und andere aus der humanen Welt nichts davon, und so haben sie weder Natur- noch andere Schützer auf ihrer Seite.

Alexander Wilbert (Ben),  Imke Looft (Schwefelfell),  Dominik Müller (Lung)Alexander Wilbert (Ben), Imke Looft (Schwefelfell), Dominik Müller (Lung)Sie sind allein auf sich angewiesen und müssen ein Anderswo zum Leben suchen. Initiativ wird Lung. Er gehört zur Art der schuppigen und flugfähigen, zudem intelligenten und gutartigen Silberdrachen. Sie speien blaues Feuer. Das aber ist heilsam wie der Dampf einer Sauna. Lungs kecker, doch immer mürrischer und hungriger Freund ist Schwefelfell, der zur Gattung der Waldkobolde gehört. Beide machen sich auf, den „Saum des Himmels“ zu finden, der in einem Tal im Himalaya liegen soll. Dort vermuten sie Lungs Artverwandte, bei denen sie Aufnahme erhoffen. Viele Abenteuer sind auf der Reise zu bestehen, zunächst in einer Stadt wie Lübeck oder Hamburg. Schuppen haben beide, nicht die einer Drachenhaut, sondern die eines Hafens. Dort lebt Ben, ein Mensch und Waisenjunge. Er hilft ihnen und darf sie auf dem Rücken von Lung als Drachenreiter begleiten.

Die Reise bringt sie weit herum, zu den Karpaten und nach Ägypten, durch die arabische Wüste, übers indische Meer und durch Persien, alles Orte voller phantastischer Wesen und merkwürdiger Leute wie Professor Wiesengrund, Forscher für Fabelwesen im Allgemeinen oder Subaida, eine Kennerin der Drachen insbesondere. Immer mehr schließen sich an oder helfen episodisch, Bergkobolde, Zwerge, Dschinns oder die Seeschlange, wohlmeinend oder unheilvoll, bis die Gruppe Tibet erreicht, wo alles happy endet. Denn endlich ist der böse Nesselbrand, der Goldene, besiegt. Er wollte alle Drachen fressen und wird mit einer Essenz aus Drachenfeuer und Koboldspucke zur Kröte zurückgestuft. Und Ben? Der erwacht schließlich wieder vor dem Hafenschuppen aus seinem bunten Traum.

Imke Looft (Schwefelfell),  Peter Grünig (Professor Wiesengrund),  Alexander Wilbert (Ben),  Dominik Müller (Lung)Imke Looft (Schwefelfell), Peter Grünig (Professor Wiesengrund), Alexander Wilbert (Ben), Dominik Müller (Lung)

Traumhaft üppig, bunt und phantasievoll geht es auch im Theater Lübeck zu, das seine Besucher mit auf die Reise des „Drachenreiters“ schickt. Jennifer Toelstede hat sie abenteuerlich gut inszeniert. Als Uraufführung einer Kinder- und Jugendoper war alles angekündigt und nun mit Akribie zum Ende der Saison auf die Bühne gebracht (Premiere: 22. Juni 2018). Fantastische Kostüme sind in abwechslungsreichen Szenerien zu sehen (Ausstattung: Christof Cremer), bei denen der Hebebühne kein Stillstand gegönnt wird und Anna Zdrahal mit Videos hinreißende Eindrücke zaubert. Entsprechend lang und lautstark war der Applaus, denn auf der Bühne agierten und im Publikum saßen viele, die sich rückhaltlos begeistern konnten.

Die Idee, Cornelia Funkes Geschichte in einer Oper Ohr und Auge zugänglich zu machen, hatte Henning Kothe. Er ist Dr. med. für Innere Medizin und Pneumologie in Hamburg, gewöhnlich „Maandags, Dingsdag un Middeweken“, wie in Heike Thode-Scheels launigem Interview auf Platt nachzulesen ist (KN, 26.09.2016). Dat schnackt de Dokter ok, der den Rest der Woche anderem widmet, als „Orgelspeler, Kabarettist, Klaveerspeler, Komponist un Schauspeler“ oder als tenoraler Sänger. Als solcher agiert er in Lübeck, mit dem ihn seit Medizin- und Musikstudium viel verbindet. Er sang den Hoffmann in dessen „Erzählungen“ oder war stimmgewaltiger Mime für ihn oder Loge im „Siegfried“ bei der Taschenoper, wo Kinder mit Anspruchsvollem in verständlicher Form be- und verzaubert werden. Für diese Passion kam ihm der „Drachenreiter“ passend vor.

Marlon Hangmann (Schwertling),  EnsembleMarlon Hangmann (Schwertling), Ensemble

Das war zu groß für die Taschenoper, überzeugte jedoch vor vier Jahren das Theater Lübeck und den Komponisten Jan Pezold. Mit dem zusammen schuf Kothe das Libretto und die Musik. Pezold kennt sich in seinem Metier und in der Musikgeschichte aus. So untermalt er das Bühnengeschehen ernsthaft, wenn auch polystilistisch. Mal klingt es nach klassischer Oper oder nach Filmmusik, mal nach Mendelssohn, Wagner, Orff oder Gamelan, mal melodisch einschmeichelnd oder rhythmisch aufrüttelnd, mal harmonisch oder krass. Das ändert sich überzeugend nach Ort und Geschehen, beschwört auch andere Geister. Darunter ist beispielsweise die Hexe Baba Yaga in ihrer hühnerbeinigen Hütte, deren akustisches Logo Mussorgsky erfand, auch Wagner mit seinem Siegfried, der mit lustigem Hörnerklang Drachen jagte. Und James Bond lässt grüßen, der schließlich auch ein mystischer Held ist.

So werden, und das ist Pezolds Absicht, die jungen Zuhörer und Zuschauer mit vielen Formen der Musik zusammengebracht. Kothe half dabei im vokalen Bereich. Das fordert die Sänger im Ambitus ihrer Partien, mit technischen Ansprüchen bei behänden Rezitativen bis hin zu rasanten Koloraturen. Pezold stellte sich für alle Rollen gestandenes Opernpersonal vor, das dann in Lübeck doch nicht ausreichend zur Verfügung stand. So halfen Choristen und die jungen Sänger des Opernelitestudios, auch sangesfähige Mitglieder aus dem Schauspielensemble und vor allem der Kinder- und Jugendchor Vocalino. Auch für springlebendige Tanzeinlagen fand Pezold mitreißende Musik und Kati Heidebrecht die entsprechend sehenswerten Choreografien. Alles stand unter der energischen Leitung von Jan-Michael Krüger, der das Philharmonische Orchester in einigen Partien recht lautstark aufspielen ließ.

Moritz von Cube (Fliegenbein),  Simon Rudoff (Nesselbrand)Moritz von Cube (Fliegenbein), Simon Rudoff (Nesselbrand)

Die Liste der Mitwirkenden ist lang, zu lang, alle zu nennen. Unbedingt aber ist Imke Looft zu erwähnen, die als Schwefelfell mit Gesang und im Spiel das Geschehen ständig durchquirlte, ebenfalls Dominik Müller und Alexander Wilbert als ihre Weggefährten, der eine als warmherziger Lung in der Drachenhaut, der andere als der springlebendige Ben. Peter Grüning, Mitglied im Schauspielensemble, machte eine gute Figur gleich in zwei Rollen, als Ratte Gilbert Grauschwanz und als Professor Wiesengrund. Singen konnte er auch, überraschend gut. Aber von hoher Gesangskunst verstanden ausbildungsgemäß Caroline Nkwe als Subaida mehr und Iuliia Tarasova. Sie war als Seeschlange eine nass gewordene Königin der Nacht, ebenso schillernd.

Eine grandiose Idee war, den Fliegenbein, Retortenmensch und Doppelagent, stimmlich als Countertenor anzulegen. Das war für Johann Moritz von Cube ein wunderbares Angebot, im Wechsel zwischen Sprechen und hohem, kunstvollem Gesang den Charakter zu zeichnen. Mit Witz vollführte Madeleine Lauw eine Flugschau als Ratte Lola Grauschwanz. Als Lama imponierte Minhong An mit würdevollem Bass, und auch Henning Kothe, der Mitautor und kraftvolle Tenor, trat auf, hier als vierarmiger Bergkobold Burr-burr-tschan mit dem internen Wissen über den rechten Weg. Simon Rudoff wirkte so grandios als furchterregender Golddrachen Nesselbrand, dass ihm selbst im Schlussapplaus der Beifall versagt wurde. Wer nun noch nicht genannt ist, möge sich nicht grämen. Es war ein staunenswerter Abend, von einem Ensemble voller Spiellust und mit hohem Können präsentiert, etwas nicht nur für Kinder, auch für Erwachsene, die sich ein Quäntchen Lust am Fantastischen und Spielerischen bewahrt haben.

EnsembleEnsemble

Es bleibt noch dies zu erwähnen: Das Theater kümmerte sich erstmals um Schwerhörige und Menschen, die schlecht sehen. Zwei der fünf Aufführungen begleiten Gebärdendolmetscherinnen (Laura Schwengber und Kathrin Floss), und in der letzten der fünf Vorstellungen in dieser Spielzeit schildern Marit Bechtloff und Hela Michalski das Geschehen in einer Audiodeskription.

Arndt Voß
Aufgewachsen in Neumünster, in Lübeck seit 1959. Studium in Kiel und Hamburg (Musik- und Literaturwissenschaft). Ständige Mitarbeit an den Lübeckischen Blättern von 1974 bis 2014, Berichte und Kritiken darüber hinaus in einigen anderen Organen. Schwerpunktthemen: Musiktheater, Schauspiel, Konzerte.

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