Foto: (c) Olaf Malzahn

Ein Tribunal über „Dreizehn Leben“ mit dem Spielclub 3
Vom Wert und Unwert zu überleben

Es ist schon eine recht düstere Geschichte, mit der sich die jungen Teilnehmer am Spielclub 3 des Lübecker Theaters (Premiere: 5. April 2018) beschäftigt haben.

Der englische Autor Fin Kennedy hat sie nach einem Stück des deutschen Dramatikers Georg Kaiser (1878 – 1945) für eine Inszenierung mit Jugendlichen entwickelt, nannte sie „Life Raft“, zu Deutsch „Rettungsboot“. Das erinnert nur fern an die mythische Dimension, die Kaiser wohl im Sinne hatte, als er sein Werk „Das Floß der Medusa“ nannte. Der Autor ist heute fast vergessen, obwohl er in den Zwanzigern des letzten Jahrhunderts viel gespielt wurde. Er gilt als einer der stärksten Dichter des Expressionismus, einer Kunstrichtung, die den Nazis bekanntlich nicht genehm war. Sie verboten ihn 1933 und verbrannten seine Bücher. 1938 ging er über Holland in die Schweiz ins Exil, wo zwischen 1940 und 1943 „Das Floß der Medusa" entstand und 1945 erschien. Im gleichen Jahr noch wurde das Stück von Schülern am Stadttheater Basel uraufgeführt. 1948 folgte die erste deutsche Aufführung in Berlin.

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Anlass für Kaisers Stück war 1940 die Bombardierung eines Dampfers mit Kindern, die von England nach Kanada in Sicherheit gebracht werden sollten. Nur ein paar von ihnen entrannen dem Tod in Rettungsbooten. Das ist der eine Hintergrund. Kaisers Titel allerdings verweist auf ein anderes, ebenso erschütterndes historisches Ereignis aus dem Jahre 1816, das der romantische Maler Théodore Géricault 1819 in einem seinerzeit stark provozierenden Gemälde darstellte. Ein mit Lebenden und Toten überladenes Floß ist zu sehen, der traurige Rest von einst 149 Schiffbrüchigen. Für sie hatte der Kapitän der französischen Fregatte Médusa das manövrierunfähige Gefährt aus Planken und Masten seines auf einer Sandbank gekenterten Schiffes bauen lassen, weil die Zahl der Rettungsboote auf dem Schiff bei weitem nicht für alle 400 Personen an Bord ausreichte. Aber statt das Floß an Land zu ziehen, wurden die Taue gekappt und die Hilflosen ohne Proviant den Wellen überlassen. Kannibalismus brach aus und nur 15 Personen konnten nach Tagen gerettet werden.

Das Stück von Fin Kennedy hat also bemerkenswerte Hintergründe. In seiner Version, ins Deutsche übersetzt von Anna Opel, verschwinden allerdings die historischen Hintergründe weitgehend, die des Ereignisses von 1816 und die des Jahres 1940. Dafür wird die Aktualität durch nahezu tägliche Berichte über risikoreiche Fluchten über das Mittelmeer beklemmend bewusst. Obwohl auch auf sie nicht angespielt wird, lässt sich der neue Titel „Dreizehn Leben“ sehr wohl zeitbezogen verstehen. So sind die Fragen, die aufgeworfen werden, von erschütternder Brisanz. Immer wieder hat es und wird es Extremsituationen geben, wo sich Gruppen angesichts des Todes entscheiden müssen: Darf man die Frage stellen, was ein Leben wert ist, darf man fragen, ob es ein „höherwertiges“ Leben gibt, ob der Einzelne für die Gemeinschaft geopfert werden darf?

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Knut Winkmann, der erfolgreiche Jugenddramaturg am Theater Lübeck, gibt dem Spielclub mit diesem Stück eine Aufgabe, die sicher alle stark herausfordert. Umso staunenswerter ist das Ergebnis, das die 12 Jugendlichen zwischen etwa 14 und 25 Jahren präsentierten. Sie bringen auf eine berührende Art fertig, ihren Figuren beides zu geben, die soziale Rolle im zufälligen Geflecht der Schicksalsgemeinschaft und zugleich ihren persönlichen Charakter, ihre Angst und Hoffnung, ihre Art und Glaubwürdigkeit mit der Ausnahmesituation umzugehen. Zwei heben sich als Führende heraus, Ann und Allen, die auch ihre Zuneigung zueinander entdecken: Emma Vesper spielt als Ann die plötzlich für alle Verantwortliche großartig, zugleich ihre Ambivalenz gegenüber Allen, dem Nik-Burhan Waesuemae einen kraftvollen, doch auch zerbrechlichen Charakter gibt. Sein Gegenspieler ist Jonny. Kerem Can Duran zeigt zwar seine derbe Schnoddrigkeit, lässt dennoch dahinter das Unsichere, das Verletzliche durchschimmern.

Knut Winkmann gelingt es mit seinen Spielern, vor allem in den zwei Schlüsselszenen, in denen jeder Stellung nehmen muss, eine intensive Spannung zu erzielen. Die eine ergibt sich aus Allans Idee, dass jeder Gründe nennen soll, warum er von den kläglichen Essens- und Wasserresten profitieren soll, um so möglicherweise zu überleben. Sie pervertiert sich in der zweiten Aufforderung, einen im Boot zu benennen, der geopfert werden kann, und dafür eine Begründung zu liefern. Quälend erlebt man dabei die beiden Jüngsten, gespielt von Louisa Gast (Maggie) und Marie Vögele (Margot), die in ihrer Kindlichkeit die Tragweite ihrer Entscheidung nicht erfassen können.

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Wenn die Probleme schon den Zuschauer bedrücken, wie muss es den Akteuren beim Aneignen der Rollen ergangen sein? Jeder meistert sie erstaunlich, vermag die existentiellen Fragen als qualvoll zu gestalten. Und das packt den Zuschauer direkt. Gleich anfangs wird er hineingerissen: Brutal laut ist es, grell blenden Scheinwerfer, eine ungemütliche Situation für ihn. Ein paar Wortfetzen sind zu hören: „ins Wasser“, „frei“, „allesamt“ könnte das heißen. Nebelschwaden liegen über der Szene, die plötzlich in Stille implodiert. Und dann beginnt das Spiel in sehr theatralisch gefügter Art. Immer wieder lässt die Regie Momente, die die Anspannung einen kurzen Moment entlastet, wenn etwa Ann und Allen sich näher kommen, wenn sie später einer skurrilen Hochzeitszeremonie unterworfen werden oder wenn Einzelne in einer Art Tanz Befreiung finden.

Es ist ein Theatererlebnis geworden, das vergessen lässt, dass hier Laien agieren.

Arndt Voß
Aufgewachsen in Neumünster, in Lübeck seit 1959. Studium in Kiel und Hamburg (Musik- und Literaturwissenschaft). Ständige Mitarbeit an den Lübeckischen Blättern von 1974 bis 2014, Berichte und Kritiken darüber hinaus in einigen anderen Organen. Schwerpunktthemen: Musiktheater, Schauspiel, Konzerte.

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