Johann David Talinski (Jason), Sophie Pfennigstorf (Medea)

Zur Inszenierung von Grillparzers „Medea oder Das goldene Vlies“
Liebe – „ein schöner Name für eine fluchenswerte Sache!“

Medea ist eine der großen Frauenfiguren in der griechischen Mythologie. Stolz ist sie und einflussreich, als Königstocher, als Priesterin und vermeintliche Zauberin. Bedingungslos liebt sie, aber grausam ist sie, wenn sie seelisch verletzt wird. In ihrem Leid tötete sie ihre Kinder.

Ihr Schicksal ist oft und in allen Kunstarten dargestellt worden, musikalisch, dramatisch, episch oder bildnerisch. Musikdramatisches gibt es seit Cavalli (1649) im Frühbarock, kurz also nach „Erfindung“ der Oper, bis hin zu Aribert Reimann (2011). Auch zwei Lübecker reihen sich ein, Johann Christian Schieferdecker im Barock, dessen Partitur leider verschollen ist, und Friedhelm Döhl. Seine „Medea“ wurde 1990 in Kiel uraufgeführt. Zahlreich sind auch die Versionen im Sprechtheater, unter denen die antike von Euripides immer noch Vorbild ist. Die neueste Sicht stammt wohl von der deutschsprachigen, in Hamburg wirkenden Georgierin Nino Haratischwili, deren Roman „Juja“ 2011 den Debütpreis des Buddenbrookhauses gewann. Ihre Version wurde unter dem Titel „Mein und dein Herz (Medeia)“ 2007 auf Kampnagel uraufgeführt.

Sophie Pfennigstorf (Medea)Sophie Pfennigstorf (Medea)

Das Theater Lübeck wählte für seinen Spielplan Franz Grillparzers Trilogie „Das goldene Vließ“, uraufgeführt 1821 an zwei Abenden im Wiener Burgtheater. [Das Wort „Vlies“ schrieb der österreichische Dramatiker noch mit einem „ß“.] Daraus schuf die Regisseurin Lucia Bihler eine Rotstift-Version mit dem Titel „Medea oder Das goldene Vlies“ (Premiere: 24. November 2017). Sie kürzte so, dass der gewaltige Text in knapp zweidreiviertel Stunden, wortfreie Passagen, Musik und die Pause eingeschlossen, ablaufen konnte, veränderte das Personal: schuf neue Rollen, eliminierte etliche oder verwandelte männliche in weibliche. „Der Gastfreund“ und „Die Argonauten“, die zwei ersten Teile der Trilogie in Kolchis, einer Landschaft am Ostende des Schwarzen Meeres, füllten dabei den ersten Akt, „Medea“, der korinthische Hauptteil, den zweiten.

Medea steht bei Grillparzer in ständigem Entscheidungszwang. Anfangs ist es die Wahl, ihrer machtgierigen Familie beizustehen, durch Mord das goldene Vlies zu gewinnen, oder der Tradition zu gehorchen, dass jedem Fremden das Gastrecht gewährt wird. Sie folgt ihrer Sippe, entfremdet sich aber von ihr. In einem zweiten Prozess wählt sie ihre Liebe zu Jason, der ihr die Hoffnung auf ein freieres Leben gibt. Sie ermöglicht ihm, das Vlies zurückzuerobern, und folgt ihm in die Verbannung. Noch existentieller geht es im letzten Teil zu. Aus Enttäuschung über die „fluchenswerte Sache“, ihre Liebe zu Jason, und darüber, dass Kreon in Korinth ihr und ihren Kindern das Bleiberecht verwehrt, wird sie zur grausigen Mörderin.

Sophie Pfennigstorf (Medea), Johann David Talinski (Jason)Sophie Pfennigstorf (Medea), Johann David Talinski (Jason)

Grillparzers Drama ist sicher in seiner vollen Länge nicht mehr auf die Bühne zu zwingen. Aber immerhin gilt es als das, bei dem das Menschliche, die Gefühle und Motivationen der Figuren erstmalig bedeutsam herausgearbeitet wurden, der Mythos also aus der psychischen Verfassung der Agierenden erklärt wird. Wenn nun gerade das grob verkürzt wird, versimpelt es Grillparzers Leistung zum Holzschnittartigen. Dennoch wirkt die Inszenierung in den Kammerspielen zunächst sehenswert, weil hier vielerlei sich verbindet. Dazu gehört Jana Wassongs eindrucksvolle, durch Vegetatives und bizarre Felsbauten gekennzeichnete Bühnenlandschaft, die mit ihren Kulissengassen an das Papiertheater des frühen 19. Jahrhunderts erinnert und damit auf Grillparzers Zeit anspielt. Dem Miniaturtheater nachempfunden ist auch, dass die Personen sich durch die Kulissen wie geschoben bewegen.

Weiterhin verordnet Lucia Bihler ihnen abgezirkelte, zeremoniell wirkende Gesten, ähnlich zu sehen bei antiken Darstellungen, auch auf ägyptischen Fresken. Dann spielen die Gewänder mit, mit denen Josa Marx und Ulf Brauner das Personal in zwei Lager teilt. Die Bewohner von Kolchis, König Aietes, seine Tochter Medea, ihre Schwester Absyrte und die Amme Gora, tragen Gewänder in hellen, erdfarbenen Tönen. Die Griechen, Fremde dort, es sind Phryxus und später Jason und sein Freund Milo, haben dagegen hautenge Hosenanzüge an. Sie passen sich wie Tarnkleidung an die florale Umgebung an. Grässlich grüne Tollen und Plateau-Schuhe strecken sie optisch wie die High Heels der Damen. Das ersetzt die Kothurne, die hohen Bühnenschuhe des antiken Theaters, das auch durch Jasons grell geschminkten Mund zitiert wird, dem Schalltrichter einer Tragödienmaske.

J. D. Talinski (Jason), R. Behringer (Kreusa), R. Brandt (Ein Herold), S. Pfennigstorf (Medea)J. D. Talinski (Jason), R. Behringer (Kreusa), R. Brandt (Ein Herold), S. Pfennigstorf (Medea)

Das ist in sich stimmig, wird auch durch die Bühnenmusik von Jörg Gollasch vertieft. Im zweiten Teil allerdings kippt das ästhetische Konzept teils ins Lächerliche, als wollte die Inszenierung aus ihrer spielerischen Geschlossenheit fliehen. Schon die armselige Kulisse befremdet. Sie soll König Kreons Palast wachrufen, gemahnt aber an eine kalte Kontrollbaracke für Flüchtlinge. Kreon selbst erinnert in seinem „Gewand“, mit seiner langhaarigen grünen Perücke und seinen breiten Augenbrauen an einen wassergeistigen Manitu und erzeugt im Publikum Juchzen, ebenso die putzige Perücke mit Kopfhörern, die der Herold trägt. Ernsteres deutet sich mit Medeas Kleidwechsel an, der in einer Videodarstellung eingespielt wird. Sie wird „angepasst“, wie auch Gora, die jetzt Korinthisches trägt. Warum aber Kreusa, Tochter Kreons, weiterhin bei der stilisierten Handhaltung bleiben muss, die die anderen Protagonisten abgelegt haben, bleibt unklar.

Das heute relevante Problem der Flüchtlinge in einem fremden Land bestimmte im Folgenden das Geschehen. Der Text von Grillparzer weist erstaunlich oft darauf, motiviert die Flüchtlingsthematik allerdings anders. Doch bei Grillparzer ist sogar die skurrile Szene zwischen Kreusa und Medea vorgebildet, bei der die Griechin der Kolcherin das Singen vor einem Mikrophon und die dazu gehörigen platten Gesten beibringt, eine Handlung, die sich als scheiternde kulturelle Angleichung interpretieren ließe. Nicht einmal die öde Szenerie mit ihren Plastikstühlen wirkt befremdlich. Aber die vorher straffe Kürzung des Textes wird jetzt zugunsten von Passagen geändert, die vor allem Medea und Jason, auch Medea und Gora heftige, teils spannende Dialoge in den Mund geben. Sie betonen das Zwischenmenschliche und das lässt die Stilisierung wenig zu, kippt bis zur Parodie. Dabei stört auch, dass die Dominanz des Textes die Schauspieler überfordert, vieles nicht gut zu verstehen ist. Gesprochen wird schnell, auch laut und leise, aber nicht artikuliert genug und nicht im Tempo differenziert. Nur wer Text und Handlung kennt, wird sich einigermaßen zurechtfinden.

Sophie Pfennigstorf (Medea), Johann David Talinski (Jason)Sophie Pfennigstorf (Medea), Johann David Talinski (Jason)

Die Inszenierung machte es insgesamt den Schauspielern nicht leicht. Alle hatten sehr viel zu sprechen, und das in mehreren, teils gesellschaftlich diametralen Partien. Robert Brandt, der gern überzeichnet, ist zuerst ein verquerer König von Kolchis, dann der dienernde Herold bei Kreon. Patrick Berg fallen gleich drei Rollen zu. Zuerst wird er als Grieche Phryxus in Kolchis ermordet, später mimt er Milo, Weggefährten und Freund von Jason, schließlich muss er gegen sein groteskes Outfit anspielen und Kreon eine furchterregende, dennoch würdevolle Haltung geben. Rachel Behringer spielte zwei Königstöchter, erst die Absyrte, Medeas Schwester, die die Züge von Grillparzers Figuren Peritta, einer von Medeas Jungfrauen, und Absyrtus, des Bruders von Medea trägt. In Korinth ist sie Kreusa, die von Medea gehasste einstige Geliebte Jasons.

Die „durchgehenden“ Charaktere hatten es etwas leichter. Medea wurde von Sophie Pfennigstorf gestaltet. Neu im Ensemble setzte sie gekonnt ihre schauspielerischen Mittel ein, berührend vor allem als von ihren Kindern verlassene Mutter. Susanne Höhne war wie gewohnt präsent als Gora, Amme und Vertraute von Medea. Den Jason hatte man Johann David Talinski anvertraut, auch er neu im Ensemble.

Fazit: Die Umsetzung überzeugte nicht durchgehend, wirkte trotz allen Bemühens der Darsteller eher unterkühlt und kopflastig als mitreißend. Wenn das die Absicht der Regie war, ist sie gelungen.

Fotos: Kerstin Schomburg

Arndt Voß
Aufgewachsen in Neumünster, in Lübeck seit 1959. Studium in Kiel und Hamburg (Musik- und Literaturwissenschaft). Ständige Mitarbeit an den Lübeckischen Blättern von 1974 bis 2014, Berichte und Kritiken darüber hinaus in einigen anderen Organen. Schwerpunktthemen: Musiktheater, Schauspiel, Konzerte.

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