Foto: Olaf Malzahn

Begeistert gefeiert
Lucia Bihler inszeniert Fassbinders bittere Tränen der Petra von Kant

Schnee, totes Holz, kaltes Licht. Dass hier das Pflänzchen Liebe nicht gedeihen kann, sieht man auf den ersten Blick, dass nicht einmal vernünftige Begegnungen zwischen Chefin und Angestellter möglich sind, auf den zweiten. An eine fernöstliche Tänzerin gemahnend, bringt er sich als Marlene in Position. Mit Bewegungen, die ebenso befremdlich wie vielsagend sind, tastet sich Benjamin Radjaipour als Hausangestellte Marlene wie über vermintes Gelände auf die Bühne.

Wir sind bei Rainer Werner Fassbinders Die bitteren Tränen der Petra von Kant, für die Kammerspiele inszeniert von der jungen Lucia Bihler (Jahrgang 1988) – eine bemerkenswerte Arbeit, die vom Premierenpublikum begeistert gefeiert wurde. Die Modeschöpferin Petra von Kant ist reich, aber einsam. Ihr erster Mann kam bei einem Unfall ums Leben, vom zweiten, von dem sie sich unterdrückt fühlte, ist sie geschieden. Die Beziehungen zu Mutter, Tochter und Freundin dümpeln bestenfalls im emotionalen Flachwasser, meist versinken sie in tiefer Unaufrichtigkeit. Assistentin Marlene könnte Farbe in den tristen Alltag bringen, doch die wird von Petra wie eine Sklavin behandelt. Soweit die Geschichte, die Fassbinder erst zu einem Theaterstück, dann zu einem Filmdrama machte. Sechs Frauen sind bei ihm vorgesehen. Sechs Personen – drei Frauen, drei Männer – holt auch Bihler auf die Bühne. Es geht um Liebe und Abhängigkeit, das Geschlecht ist dabei unwichtig.

Die Qualität der Inszenierung wird ohnehin nicht bei Fragen wie männlich, weiblich, hetero oder schwul entschieden. Mit zwei Kunstgriffen gelingt es in den Kammerspielen, die Komplexität der Fassbinder-Vorlage herauszuarbeiten: Lucia Bihler stellt nicht eine Petra von Kant auf die Bühne, es ist ein Chor aus fünf Darstellerinnen und Darstellern (Susanne Höhne, Monika Oschek, Maike Schmidt, Vincenz Türpe und Jochen Weichenthal), mit dem sie die Facetten von Interaktion zeigt. In Laufe des Stückes tritt jeweils eine/einer aus dem Chor heraus, um in eine der anderen Rollen – Mutter, Tochter, Freundin, Geliebte – zu schlüpfen. Allein Marlene (Benjamin Radjaipour) ist nur Marlene.

Benjamin Radjaipour, Foto: Kerstin SchomburgBenjamin Radjaipour, Foto: Kerstin SchomburgGemeinsam ist den Petra-Choristen eine Maske der kanadischen Nacktkatze Sphynx (die auch Marlene trägt), ansonsten sind sie von Art und Kostüm so unterschiedlich, wie Petras Interaktionen mit Freundin, Geliebter, Mutter, Tochter. Dieser Regie-Dreh, der die ureigenste Fassbinder-Frage nach der Wechselwirkung von Individuum auf soziales Umfeld und schlussendlich auf Gesellschaft herausarbeitet, wird umso brillanter, als es das Bühnenpersonal versteht, die einzelnen Charaktere individuell auszustatten.

Das Rätsel der Katzenmasken erschließt sich schnell. Große Ohren, starkes Kinn, nur leichter Haarflaum. Klar, dass so eine Katze im Schneefall der Kammerspiele in Bedrängnis kommt. Näheres zur Sphynx-Katze erklärt das Programmheft: Sie wird 1971, im Jahr der Uraufführung von Fassbinders Die bitteren Tränen der Petra von Kant, als Rasse offiziell anerkannt, sie gilt als temperamentvoll, anhänglich, charmant, intelligent. Gelehrig. Und teuer in der Anschaffung. Ein Luxusgeschöpf.

Bekannt wurde Fassbinders Die bitteren Tränen der Petra von Kant 1972 als Filmdrama mit Michael Ballhaus als Kameramann, sowie Darstellerinnen wie Margit Carstensen (Petra), Hanna Schygulla (Karin), Eva Mattes (Petras Tochter) und Irm Hermann (Marlene), für das ein gleichnamiges Theaterstück Fassbinders die Vorlage war, das 1971 unter der Regie von Peer Raben uraufgeführt wurde. In Lübeck hat sich nicht nur Bihler leichtfüßig von der drohenden Last dieser großen Namen befreit. Auch dem Bühnenpersonal gelingt es, die Zuschauer in eine frisch aufbereitete Fassbinder-Welt zu entführen. Man wünscht sich mehr von Lucia Bihler.

Termine: 13. Oktober, 10. November, 23. Dezember 2016 jeweils 20 Uhr


Fotos: (c) Olaf Malzahn und Kerstin Schomburg


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