Eine Geschichte über die Unbelehrbarkeit des Menschen
Spektakulärer Erfolg mit Verdis „Attila“ im Großen Haus

Peter Konwitschny ist ein viel beachteter Regisseur, ihn nach Lübeck zu holen eine kleine Sensation. Möglich wurde das durch eine Koproduktion mit dem Theater an der Wien und durch die persönliche Begegnung von Lübecks GMD Ryusuke Numajiri mit ihm in Japan.

Giuseppe Verdis wenig beachteter Attila stand dabei auf dem Plan. Doch merkwürdig: In Österreichs Hauptstadt hatte die Inszenierung vor drei Jahren einen handfesten Skandal verursacht, in Lübeck jetzt einen spektakulären Erfolg. Es war ein Abend mit italienischem Flair. Fast nach jeder Nummer wurde heftig applaudiert und – in bestem Italienisch – bravo, brava oder bravi gerufen. Wenn das zunächst auch den Sängern galt, die die gewaltigen Partien zu stemmen hatten, so spürte man von Anbeginn eine Lust im Publikum, dieser grotesk komischen Inszenierung zu folgen. Und das bezeugte auch der große Beifall für Konwitschny beim Schlussapplaus. Das Lübecker Publikum war seiner Interpretation gefolgt.

In der letzten Zeit hatte es bereits einige Opernerfolge gegeben. Bravourös gesungen und inszeniert waren Cosi fan tutte, die Lady Macbeth von Mzensk oder Bellinis Romeo und Julia, alles nicht gerade leichte Kost. Und die servierte auch Konwitschny nicht. Schon sein Vorhang, eine derbe, weiße Leinwand mit viel Kindergekrakel darauf, oben ein Stuka im Anflug, unten ein zackiger Blitz und in der Mitte der Operntitel Attila, machte klar, dass der Abend Fragen stellen, keine historische Interpretation bieten würde. Wer die wollte, hätte gleich gehen müssen. Wer blieb, durfte dann die intelligente, bis in Kleinigkeiten durchgeformte Inszenierung bestaunen.

Die erste Szene setzt das Vorhangbild stimmig fort. Eine hohe Rundwand mit bröckelndem Stuckrand und Löchern von Einschüssen begrenzt den Raum, in dem sich als Soldateska verkleidete Kinder tummeln (Ausstattung: Johannes Leiacker). Sie spielen, mit Küchen- und Reinigungsutensilien bewaffnet, Krieg. Wilde Hunnen wollen sie sein, die dann ihrem Führer zujubeln, der auf einem kleinen Leiterwagen, gezogen von zwei gebückten menschlichen Zugtieren, hereinrollt. Das passt grandios zu der plakativen, positiv gestimmten Musik Verdis mit ihrem beschwingt martialischen Ton.


Ernesto Morillo (Attila), Chor und Extrachor des Theater LübeckFoto: Jochen Quast

Dann tritt Attila auf. Mit Erstaunen hört man den enorm tiefen, dabei etwas hohlen Stimmklang, den Ernesto Morillo bewundernswert bis zu seinem bitteren Ende als Titelfigur durchhält. Unter die Haut geht später seine Albtraumerzählung im Gespräch mit Uldino, seinem Adjutanten (Hyungseok Lee), wunderbar schattiert durch solistische Leistungen im Orchester. Und wenn dann diese „Geißel der Menschheit“ vor Rom seinem Traumbild Leone, dem Bischof von Rom (Seokhoon Moon), begegnet, wenn die Damen in Heilsarmeekostümen die wilden Hunnen um(er)ziehen, erlebt man großes Theater. Die Kerle müssen sich erwachsen gebärden.

Komisch wird es gleich beim Auftritt der weiblichen Heldin, der Odabella. Helena Dix singt und spielt sie furios. Ihr Elan wird drastisch in Szene gesetzt, wenn sie sich die Hunnenkrieger mit Stimmkraft vom Leibe hält. Und ihre Koloraturen bewundert nicht nur Attila, der die gefangene Italienerin zu seiner Geliebten machen möchte, die Ungehaltene später gar mit vorgehaltener Pistole zur Ehe zwingen will. Seine Krieger haben ihren Vater getötet und sie gedenkt seiner in gefühlvollen Wendungen, motiviert damit ihren Rachedurst. Beides sind sehr unterschiedliche Charaktere, brutal und eitel der eine, angepasst und zaudernd und doch nach Vergeltung dürstend die andere.

Mit dem römischen General Ezio kommt ein weiterer zwielichtiger Charakter hinzu. Gesanglich schafft Gerard Quinns Bariton es mühelos, Attila Widerpart zu sein. Hinter Biederkeit versteckt er seine Verschlagenheit. Die offenbart ein szenischer Einfall sinnbildlich, wenn er das schmutzige Fahnentuch in den italienischen Farben von der Schulter nimmt und sich um die Hand wickelt. Sein Arm wird zur Schlange, seine Hand zu ihrem Kopf. Nur auf eigenen Machterhalt bedacht erstrebt er einen listigen Kontrakt mit dem Hunnenfürsten: „Du sollst das Universum haben, doch Italien überlasse mir.“


Helena Dix (Odabella), Ernesto Morillo (Attila), Chor und Extrachor, Foto: Jochen Quast

Ein Antiheld ist Foresto, der Verlobte Odabellas. Alexander James Edwards gibt dem Tumben seine Stimme, ein Tenor, der in seiner weichen, eher lyrischen Unbestimmtheit vorzüglich zu dieser Rolle passt. Er ist kein Sieger, versteht das Spiel, das seine Angebetete treibt, nicht. Aber eifersüchtig ist er, betreibt nur deshalb das Spiel gegen Attila. Wie Konwitschny das Duett mit Odabella spielen lässt, ist ein Kabinettstück für sich.

Das verästelte Geschehen wird in einzelnen holzschnittartigen Bildern veranschaulicht. Dazu passen vortrefflich die comicartigen Szenen mit aufgehender Sonne oder Mondsichel, auch die schwebenden Vögel oder die Sprechblasen. Alles untermalt Verdis expressive, auf Wirkung bedachte Musik, wird vom Orchester beredt unterstrichen. Es folgt unter GMD Ryusuke Numajiris Leitung erstaunlich gut den Gesangslinien im natürlichen Fluss der Melodik. Bewundernswert ist zudem der erweiterte Theaterchor und der Kinder- und Jugendchor Vocalino (Einstudierung: Jan-Michael Krüger). Beide sind stark geforderte Mitspieler. Ständig in Bewegung leisten sie dennoch gesanglich Rundes.

Sowohl das dramatische Geschehen als auch die Musik zeigt kein psychologisch begründetes Handeln der Protagonisten. Konwitschnys Interpretation rückt deshalb den Umgang mit Macht und Rache, mit Habenwollen und Eifersucht, mit zerstörender Eitelkeit und grenzenloser Gier als ein jämmerlich erschreckendes und immer gleiches Verhalten der Priviligierten in den Mittelpunkt. Von Kindestagen an bis ins Greisenalter bestimmt es deren Tun. Sinnbildlich lässt er alle Protagonisten im Laufe des Spiels altern, präsentiert die Helden zum Schluss in einer makabren Szene als lächerliche, unbelehrbare Greise, blind und an Krücken Attila, im Rollstuhl oder am Rollator die anderen. Ein düsterer Spaß ist das, mit Endspielcharakter und widerborstig dazu. Keiner hat aus der Geschichte gelernt.

Weitere Aufführungstermine in dieser Spielzeit: 26.05., 18.06. und 03.07.2016

Fotos: Jochen Quast

 

Arndt Voß
Aufgewachsen in Neumünster, in Lübeck seit 1959. Studium in Kiel und Hamburg (Musik- und Literaturwissenschaft). Ständige Mitarbeit an den Lübeckischen Blättern von 1974 bis 2014, Berichte und Kritiken darüber hinaus in einigen anderen Organen. Schwerpunktthemen: Musiktheater, Schauspiel, Konzerte.

Sie haben keine Berechtigung hier einen Kommentar zu schreiben.