Im Planschbecken der Gefühle
Gorkis „Kinder der Sonne“ in Marco Štormans Sicht

Das Theater Lübeck kündigte eine Inszenierung von Maxim Gorkis Kinder der Sonne an. Der russische Gesellschaftskritiker hat in diesem Stück eine Oberschicht angeklagt, die von Solidarität mit dem Volk schwätzt, sie aber nicht lebt. Das Thema könnte durchaus aktuell sein. Was aber in den Kammerspielen zu sehen war (Premiere: 1. April 2016), lässt sich bestenfalls als raffinierte, teils auch bühnenwirksame Bearbeitung des Dramas bezeichnen, angefertigt durch Marco Štorman, 1980 in Hamburg geboren.

1905 hatte Gorki das Stück im Gefängnis geschrieben. Er war in der Peter-Pauls-Festung in Petersburg inhaftiert, weil er sich dem Protest der Arbeiter am „Blutsonntag“ angeschlossen hatte, bei dem das zaristische Russland brutal seine Macht demonstrierte. Und auch ein anderes Thema lag ihm am Herzen. Es war die schlechte Versorgung mit wirksamen Arzneimitteln, hervorgerufen dadurch, dass merkantile Interessen höher rangierten als medizinische oder menschliche Notwendigkeit. Auch dieses heute wieder brisante Thema führte Gorki am Exempel der Cholera-Epidemie aus, die etwa 10 Jahre vorher in Russland grassierte. Er machte einen Chemiker zur Hauptfigur, der allerdings anderes zu erforschen im Sinne hatte als Medikamentöses. Dennoch baute Gorki sein Stück um ihn herum, zeigte die „bessere“ Gesellschaft in ihrer hohlen Unzulänglichkeit und Langeweile, in ihrer Depression und Amoralität, in ihrer Abhängigkeit von der Leistung ihrer Untergebenen, auch in einem verwobenen Beziehungsgefüge aus Begehren und Abneigung. Dagegen stellte er Volkstypen, keine idealisierten. Trinker sind darunter und brutale Schläger ihrer Frauen, aber auch ausgenutzte Dienerschaft und anmaßende Emporkömmlinge.

Kaum etwas davon bleibt bei Marco Štorman. Sein Rezept lautete: Man belebe etwa die Hälfte des Figurenpersonals, lasse sie ein paar Textteile aus dem Original zitieren, füge sie ein in eine visuell attraktive Umgebung und nehme als Würze Verweise auf Aktuelles. Wer Maxim Gorkis Kinder der Sonne nicht kennt, und das werden viele sein, da dieses Werk des russischen Dramatikers gewiss nicht zum Lesekanon der Schulen gehört, hat es mit Lübecks neuester Schauspiel-Inszenierung schwer. Und wer den Text kennt, musste erleben, dass nicht er es ist, den man besichtigte, sondern seine Umdeutung durch Marco Štorman. Den Charakteren wurde ihr Charakter zusammengestrichen, weil ihnen die Stichwortgeber aus der sie umsorgenden Unterschicht fehlen. Auch die Palette der Themen, über die sich die Protagonisten austauschten, war grau und einseitig. Protassow, die Hauptfigur, ein versponnener, weltabgewandter Professor einer bei Štorman unklaren Fakultät, durfte nur ein paar mühsam gefundene Fiktionen setzen.

Dazu gehörte die titelgebende Anmaßung, dass diese Gesellschaft sich als etwas Besseres, sich als „Kinder der Sonne“ wähnt, oder die, dass der Mensch „Herrscher über alles sein“ werde, - nur über sich selbst nicht, wie das Stück zeigt. Jan Bryl musste den Wissenschaftler anfangs sehr zäh spielen, durfte erst später mehr in Fahrt kommen. Der Maler Wagin, Rivale um die Gunst der Professorengattin Jelena, war dagegen als dramatischer Gegenpart gedacht. Bei Gorki setzt er dem wissenschaftlichen sein künstlerisches Credo entgegen. Štorman streicht auch das. Nicht nur die Figur blieb dadurch blass, auch Timo Tank konnte ihr kein Profil geben. Der dritte der Mannen ist der Tierarzt Boris Tschepurnoi, kraftvoll und bis zur Clownerie von Will Workman verkörpert. Er liebt Lisa, des Professors Schwester, die mit in dem Hause wohnt. Bei Gorki ist sie eine psychisch pathologische Figur, bei Štorman schön, allenfalls frustriert. Verzweifelt bemüht Boris sich, ihre Gunst zu gewinnen, bis er sich erhängt. Warum er das tut, bleibt allerdings unklar, weil auch dieser Figur der Hintergrund fehlt, ihre inneren Triebkräfte nicht deutlich werden.

Die wenigen Hinweise gestatten kaum, die familiären oder gesellschaftlichen Zusammenhänge zu erahnen. Štorman geht sogar so weit, Verwirrendes hinzuzusetzen. So gibt es ziemlich zu Beginn eine Badeszene, in der die Witwe Melanija, die Schwester von Boris, ihn, ihren Bruder, beim Planschen im Pool sehr drastisch umgarnt. Inzestuöses deutet sich an, später sogar Homoerotisches, wenn Melanija nicht nur um den Professor, auch um seine Ehefrau Jelena buhlt. Drastisch ist das und schiebt das Erotische in den Vordergrund. Zudem sind alle drei Frauenfiguren ausgesprochen stark besetzt. Lisa spielt Nadine Boske mit Zurückhaltung und doch großer Präsenz. Sie ist neben Jelena die einzige, die sich überhaupt mit dem Volk, das außen den Aufstand probt, beschäftigt. Minutenlang streckt sie solidarisch die Faust hoch und hilft Mischa beim Plakatieren eines Bildes, das die durch Stacheldraht abgewehrte revolutionäre Gegenwelt in die bürgerliche Idylle hereinholt. Das steht wieder gegenläufig im Gegensatz zu einer Szene, in der sie mit dem ihr wie ein Gockel nachstellenden Boris spielt und sie in eine ganz andere Ecke drängt. Gewaltigen physischen Einsatz musste Astrid Färber bringen, inzwischen im erotischen Dauereinsatz. Grandios war ihre artistische Einlage mit einem senkrechten Spagat und dem Kopf in einem Bottich, auch ihre Hündchenszene war gekonnt. Marlène Meyer-Dunker schließlich bewährte sich vor ihrem Weggang noch einmal im becircenden Kraftakt. Wunderbar lässig spielte sie die frustrierte Ehefrau beim erotischen Erweckungsversuch ihres Ehegatten und im lüsternen Dreiecksverhältnis mit dem Maler Wagin.

Doch die erotischen Szenen überdecken das Anliegen Gorkis. Zudem ist eine weitere Figur, die Štorman hinzuerfunden hat, eigentlich die interessanteste Figur, die aber zugleich mit dem ursprünglichen Text nur wenig gemein hat. Sie ist ein unwirkliches, changierendes Konglomerat vieler gestrichener Figuren, in der Besetzungsliste Mischa genannt. Bei Gorki ist Mischa der den Mietzins eintreibende Sohn des Hausbesitzers, bei dem der Professor wohnt. Anfangs spielt dieser Mischa, in Schwarz gekleidet und mit schwarzer Beatlesperücke, diese Rolle, wandelt sich später unter anderem zu Jegor, Schlosser seines Zeichens. Kaum nachvollziehbar ist, dass der Professor von dessen Fertigkeit abhängt, dass er brutal seine an der Cholera erkrankte Frau prügelt, dennoch für sie im Hause des Professors Hilfe anfordert. Noch weiter im Ablauf mutiert Mischa zum Terroristen, dann zum Stellvertreter für das Volk. Das von ihm und Lisa aufgeklebte Plakat zeigt ihn deshalb auch vervielfacht vor einem Stacheldrahtverhau. Moritz Löwe, neu im Ensemble, gibt dieser unwirklichen, dennoch intensiven Figur ein groteskes Gesicht. Zugleich aber zeigt diese Figur, im Stück selbst als „Komiker“ bezeichnet, dass das Spiel ins absurde Theater abgleitet und widersinnig seltsam ver-„rückte“ Momente bekommt.

Auch die Bühne von Frauke Löffel greift das auf. Sie setzt ein Saunagebäude vor eine eisige nordische Winterlandschaft. An der Rampe befindet sich ein Becken, in dem sich die Gemüter nach Sauna- oder Erregungsgängen abkühlen. Viel wird dabei geplanscht, auch bis nah ans Ertränken untergetaucht. Sara Schwarz gibt den Agierenden dazu reizvolle Badeanzüge und evoziert russisches Ambiente mit kostbarem Pelzwerk. Auch das erhöht den wunderlichen Eindruck der Inszenierung, verwässert die Gesellschaftskritik des Textes. Damit Štorman zum Schluss einen aktuellen Bezug bekommt, wird aus dem Off von geschlossenen Grenzen oder abgewehrter terroristischer Bedrohung gekündet, wird Mischa mit einer MP ausgestattet und verbarrikadieren sich die Protagonisten verschroben hinter Saunabänken.

Über das Spiel nach Gorki amüsierten sich lautstark etliche Besucher. Dennoch war der Beifall eher verhalten, würdigte vor allem die Leistung der Schauspieler. Fast ständig nass und ständig rauchend waren sie stark gefordert. Positiv sei auch das Zusammenspiel zwischen Oper und Schauspiel vermerkt, bietet das Stück doch in vielem einen wirkungsvollen Kontext zu Schostakowitschs Lady Macbeth von Mzensk

Fotos: Falk von Traubenberg

 

Arndt Voß
Aufgewachsen in Neumünster, in Lübeck seit 1959. Studium in Kiel und Hamburg (Musik- und Literaturwissenschaft). Ständige Mitarbeit an den Lübeckischen Blättern von 1974 bis 2014, Berichte und Kritiken darüber hinaus in einigen anderen Organen. Schwerpunktthemen: Musiktheater, Schauspiel, Konzerte.

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