Sex und Crime an der Beckergrube
Schostakowitschs „Lady Macbeth von Mzensk“ in einer eindringlichen Inszenierung

Das Theater Lübeck traut sich was. Diesmal wagte es sich an Dmitri Schostakowitschs Lady Macbeth von Mzensk heran, ein Werk von immerhin mehr als drei Stunden Dauer und mit einem drastischen Sujet. Gewählt wurde nicht die geglättete spätere, sondern die stärkere Erstfassung. Eine Kriminalerzählung von Nikolaj Leskov aus dem Jahre 1865 stand für das Libretto Pate, weniger Shakespeares Spiel um Macht und Mord.

Von dem englischen Idol sind die Schuldgefühle geblieben, die als quälende Geister auferstehen, Sex und Crime dagegen sind neu, in einem anderen Milieu angesiedelt. Und die Lady heißt hier wunderbar ironisch Katerina, die Reine. Schon durch ihr Leben mit dem liebesunfähigen Geschäftsmann Sinowij frustriert, wird sie zudem von ihrem rüden, ihr nachgierenden Schwiegervater Boris tyrannisiert. Der Orts-Casanova Sergej beeindruckt auch sie. Sie lässt sich mit ihm ein, wird aber von ihrem Schwiegervater erwischt. Boris peitscht den Liebhaber aus und sperrt ihn ein. Um Sergej befreien zu können, vergiftet sie Boris. Und auch den Ehegatten tötet das Paar, weil es sich so ein glücklicheres Leben erhofft. Die Hochzeit allerdings wird zum bitterbösen Fanal, weil die Leiche Sinowijs gefunden wird. In einem Arbeitslager in Sibirien muss das Paar büßen. Weil Sergej sich dort mit der Prostituierten Sonjetka einlässt, mordet Katerina ein drittes Mal. Sie stößt die Nebenbuhlerin in einen reißenden Fluss und stürzt sich selbst hinterher.

1932, gerade 26 Jahren alt, hatte Schostakowitsch das seiner Braut Nina Warsar gewidmete Werk vollendet. Nur zwei Jahre später wurde es in Leningrad und zeitgleich in Moskau uraufgeführt. Über 80 Aufführungen erreichte das Stück in Leningrad, in Moskau sogar mehr als 90, bis Stalin mit Gefolge 1936 eine davon besuchte. Ein Artikel in der Prawda, als dessen Autor man Stalin selbst vermutet, trug den Titel Chaos statt Musik. Schostakowitsch musste danach seine Absicht begraben, weitere Opern über Frauenschicksale zu gestalten.

In einer bejubelten Erstaufführung nun in Lübeck (Premiere: 4. März 2016) entschärft der viel gepriesene Regisseur Jochen Biganzoli das Erotische, aber auch das Kriminelle, nähert sich der Oper anders. Schostakowitsch selbst steht im Mittelpunkt. So rahmt Biganzoli den Abend mit zwei Sätzen aus dessen Quartett Nr. 8 in c-Moll. Das Largo, der vierte Satz, dient ihm quasi als Ouvertüre, der fünfte Satz, ebenfalls ein Largo, wird zum Epilog. 1960 hatte der Komponist das Kammermusikwerk als seine musikalische Autobiografie verfasst. Zum ersten Largo lässt Biganzoli Auszüge aus dem Prawda-Artikel projizieren, unter anderem die Schelte in Richtung auf die „diensteifrige Musikkritik“, die „diese Oper … lärmend mit Ruhm“ überschütte. Zum Epilog sind es dann Äußerungen von Schostakowitsch, die seine vorgebliche, jedenfalls lebenserhaltende „Anbiederung“ an die Mächtigen belegen soll. So versicherte er der KPdSU 1961 im Aufnahmeantrag, „alle … Kräfte zu geben, um ihr Vertrauen zu rechtfertigen“.

Biganzoli nimmt zudem die bildhafte Musik sehr ernst, stellt auch damit Schostakowitsch heraus. Es gibt eine Reihe von Passagen, in denen sie allein die Handlung darstellt. Das Orchester unter Andreas Wolf leistet dabei Hervorragendes. Die Bühne gestaltete Wolfgang Gutjahr. Er schuf eine stilisierte, doch effektvolle Kulisse, deren wichtigstes Element eine hohe, tonnenförmig gebogene Wand ist, deren Rundung sich der Drehbühne anfügt, mit vier mannsgroßen kyrillischen Lettern darauf. Sie bilden das Wort „ГРЕX“, das russische Wort für „Sünde“. Wenn sich die Wand öffnet, drehen sich schmale oder weite, weiß gestrichene Räume vorbei, karg nur mit Stühlen möbliert. In einer Ecke steht ein Cello, späteres Mordwerkzeug. Auch in diesen Räumen bleibt Schostakowitsch präsent. Zwei sind durch große Fotos von ihm charakterisiert. Auf dem einen sitzt der Komponist mit nach hinten gestrecktem Kopf, nach oben schauend. Das andere zeigt ihn 1941 als Luftschutzwart auf dem Dach des Konservatoriums in Moskau. Und zum Schluss wird noch einmal ein Foto von ihm zu anderen, Vermissten oder Toten, auf die Inschrift gepinnt. Das Wort „Sünde“ erhält damit noch eine tiefere Bedeutung, prangert die Opfer des Stalinismus an.

Die krasse Handlung wird dadurch gemildert, dass immer wieder Momente eintreten, die in der Art von Brechts epischem Theater gestaltet sind, dadurch distanzieren. Die Sänger treten bei Monologen zur Seite, treten vom Parkett auf oder singen in eine Kamera, die ihr Gesicht auf die Wand projiziert. Thomas Lippick hat zudem Videos gestaltet, die mit starken Effekten die Thematik vertiefen. Famos ist z. B. die Sequenz beim Auftritt der Polizei im dritten Akt, grandios auch im vierten Akt die erschütternden Tuschzeichnungen von Dancik Sergejewitsch Baldajew, mit denen er die Brutalität des Lebens im Gulag abbildete. Dazu treten die Akteure wie zur Hochzeit in Abendgarderobe auf und stellen in Form eines szenischen Oratoriums den Schluss der Handlung dar, die Eifersuchtsszene und das Ende. Die festlich gekleidete Gesellschaft bewegt sich vor dieser brutalen Arbeitslagerwelt ungerührt, steigert damit die kritische Aussage, die sich dann im Epilog verdichtet.

Das Drastische manch anderer Inszenierung, das das Libretto vorgibt, wird zurückgenommen, dennoch gelingen Bigonzoli zusammen mit der Kostümbildnerin Katharina Weissenborn kräftige, auch unvergessliche Bilder, auch wenn nicht anschaulich kopuliert wird, Sergej nicht auf offener Bühne die Prügel erhält und Tötung und Selbsttötung am Schluss sich im Off vollziehen. Es bleiben noch genug markante Momente übrig, etwa die Vergewaltigungsszene der Aksinja, in der Andrea Stadel darstellerisch und stimmlich überzeugt. Auch Wioletta Hebrowska schafft es, trotz der Statik der Schlussszene der Sonjetka ein weiblich-verführerisches Profil zu geben.

Großen Anteil an der musikalischen Qualität hat die gebürtige Russin Irina Rindzuner, ein welterfahrener dramatischer Sopran, der als Katarina ein erstklassiges Rollendebut gelingt. Glaubhaft gibt sie eine handfeste junge Frau, die ihr Leben vergeblich zu gestalten versucht. Den schweren, äußerst fordernden Part bewältigt sie bewundernswert, vom Beginn mit ihrem Monolog über die Langeweile bis hin zum Lebensresümee. Neben ihr gestaltet der Tenor John Uhlenhopp den Sergej kraftvoll und spielerisch wendig, allerdings merkt man ihm bei dem gewaltigen Part zum Schluss die Anstrengung an. Beide sind einzige Gäste dieser personenreichen Inszenierung.

Unter den Ensemblemitgliedern sticht vor allem Taras Konoshchenko hervor. Sein Boris ist von markanter Statur in Stimme und Spiel. Und auch Daniel Jenz als Sinowij lässt seinen Tenor wieder kraftvoll leuchten. Daneben gibt es eine Reihe kleinerer, nicht minder plastischer Rollen. Es zeichnet Lübeck aus, dass auch sie insgesamt hervorragend besetzt sind. Guillermo Valdés als Schäbiger gehört nicht nur mit seiner Moritat dazu. Steffen Kubach bewältigt wieder erstrangig einen witzigen Auftritt als Polizist oder Seokhoon Moon den als Pope. Nicht minder eindrucksvoll bewältigt der Chor unter Jan-Michael Krüger seine großen Aufgaben, zumal alles auf Russisch gesungen wird und er viel zu agieren hat.

Blutvolles, musikalisches Theater gibt es zu erleben, ein Theater aber auch, dass durch seine vielschichtige Aussage und sehr geschlossene Inszenierung besticht. Das Premierenpublikum applaudierte heftig und lang.

Fotos: Jochen Quast

 

Arndt Voß
Aufgewachsen in Neumünster, in Lübeck seit 1959. Studium in Kiel und Hamburg (Musik- und Literaturwissenschaft). Ständige Mitarbeit an den Lübeckischen Blättern von 1974 bis 2014, Berichte und Kritiken darüber hinaus in einigen anderen Organen. Schwerpunktthemen: Musiktheater, Schauspiel, Konzerte.

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