Annika Martens, Foto: Kerstin Schomburg

"DEKALOG - Die zehn Gebote"
Episoden um Erfüllung und Verlust, Sinnsuche und Selbstzerstörung

Mit der jüngsten Inszenierung (Premiere: 20. November 2015) hat das Theater Lübeck seine Reihe von Adaptionen von Filmen fortgesetzt. Grundlage ist diesmal der Dekalog - Die zehn Gebote von Krzysztof Kieślowski und Krzysztof Piesiewicz, eine vielfach preisgekrönte Fernsehserie. Zehn einstündige Filme hat der polnische Filmregisseur und Drehbuchautor Kieślowski zusammen mit dem Rechtsanwalt Piesiewicz gestaltet, aus denen die Regisseurin, Schauspielerin und Theaterleiterin Crescentia Dünßer eine auf ca. 3 Stunden Spielzeit verkürzte Bühnenfassung schuf.

Übernommen ist die trostlose Kulisse, ein elendes Wohnhaus. Von ihm stellt der Bühnenbildner Otto Kukla eine Fassade auf die Bühne und lässt sie im Laufe der Handlung immer weiter, den Spielraum bedrängend und einschränkend, in den Vordergrund schieben. Im unteren Bereich ist sie mit Graffiti beschmiert. „Moloch“, „Serum“ oder „Ora“ ist zu entziffern. Im oberen Bereich unterbricht ein Fenster das Grau. Wechselnde Gesichter starren nahezu unbeweglich herunter oder es erscheinen dort Handlungsträger. Einer bringt einen Balkonkasten an und bepflanzt ihn - ein vergeblicher Versuch, der Tristesse Farbe zu geben. Auch die wenig anheimelnden Stehlampen bemühen sich verzweifelt, die Umwelt aufzuwerten. 

Regie führt die Autorin der Bühnenfassung selbst. Aus den Filmen hat sie zu jedem Gebot zehn mehr oder weniger knappe Episoden destilliert, die es in der zugespitzten Verkürzung nicht schaffen, die Individualität der Menschen einzufangen. Stattdessen stehen, wie das Programmheft formuliert, „problematische Entscheidungskonstellationen“ im Fokus, „nicht … religiös orientierte Deutungen“, die irgendwie mit den Geboten zusammenhängen. Deshalb ist die Reihenfolge auch nicht an den Kanon gebunden, folgt zudem keiner ersichtlichen Notwendigkeit. Auf zwei mit Kreide beschriebenen Tafeln links und rechts sind die Gebotstexte aufgelistet und ein Schauspieler unterstreicht jeweils das, worauf sich die Szene bezieht. Zusätzlich markiert ein Engel die neue Episode, eine etwas fragwürdige Figur. Immer ein anderer Darsteller trägt die Engelsflügel, ohne selbst in das Geschehen einzugreifen. Das Programmheft gibt diesem mythischen Trennungszeichen eine wenig sinnfällige Deutung als „Engel der Geschichte“, der, vom Sturm des Fortschritts getrieben, „unaufhaltsam in die Zukunft“ treibt. Er ist zugleich der wörtlich genommene Verweis auf die in den Filmen immer wieder geheimnisvoll auftretende Figur eines „Jungen Mannes“. In seinen „Anmerkungen zum Dekalog“, auch im Programmheft abgedruckt, schreibt Kieślowski: „So führte ich diese Figur ein, … einen Typen, den manche den ‚Engel‘ nennen …“ Rudimentär bleibt so ein religiöser Kontext erhalten, auch durch Choräle, die die Schauspieler in grandioser Weise mehrstimmig darbieten.

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Susanne Höhne, Timo Tank, Foto: Kerstin Schomburg


Die Episoden illustrieren die Gebote nicht, sondern sie setzen sich, wie in der polnischen Originalfassung, kritisch mit ihnen auseinander. Sie fragen danach, wie diese jüdischen und christlichen Vorschriften für heutige Menschen in ihrer geänderten Lebenswirklichkeit noch gültig sein können. Diesem Denkansatz zu folgen, fordert den Zuschauer stark heraus. Denn die Episoden zeigen Menschen, die durch die Forderungen der Gebote bedrängt werden, Entscheidungen zu treffen, deren Ergebnis sie selbst nicht mehr in der Hand haben. Eines der Schicksale, das in Varianten auf mehrere Gebote bezogen ist, prägt die Verzweiflung, die der Krebstod bringt. Der Mann ist todkrank, der Arzt spielt sich als Gott auf und verkündet den nahen Tod. Die Frau ist schwanger von einem anderen. Soll sie abtreiben, um der Liebe willen zu ihrem Mann? Unlösbar scheint dieser Konflikt, weniger jedoch ein anderer, der einen jungen Mann betrifft, der heimlich eine Frau beobachtet. Ist er „unkeusch“ oder ist es die Frau, die diese Beachtung genießt? Das vierte Gebot fordert, Vater und Mutter zu ehren. Wie sollen Menschen aber miteinander umgehen, die als Tochter und Vater leben, sich dennoch zueinander hingezogen fühlen, weil sie in der unsicheren Familiensituation nicht wissen, ob sie tatsächlich blutsverwandt sind.

Die sechs Schauspieler sind in dieser Inszenierung stark gefordert, denn Susanne Höhne und Annika Martens sowie Jan Byl, Andreas Hutzel, Henning Sembritzki und Timo Tank müssen eine Reihe von Figuren verkörpern. Sie tun es trotz gleichbleibender Alltagskleidung (Kostüme: Julia Ströder) mit großer Spannung, auch wenn der problemlastige Text, der zwischen epischen und dramatischen Passagen wechselt, teils wie ein Hörspiel klingt. Das schafft Distanz, und es können Zeit und Ort sehr schnell wechseln. Mikrophone ändern zusätzlich Intensität und Sprechweise. Dieser Einsatz der akustischen Technik kommt der Textlastigkeit zugute, führt allerdings auch dazu, dass manche Stellen wie ein auf Sprecher verteilter Vortrag wirken. Zudem nutzt Crescentia Dünßer viele Darstellungsformen von der Verfremdung bis zum Slapstick. Dennoch geht die Spannung selten verloren, weil es die Darsteller schaffen, ihren verschiedenen Figuren ein intensives Eigenleben zu geben.

Es ist ein Abend der Gegensätze. Inhaltlich ist der Problematik nicht immer leicht zu folgen, als Schauspiel aber stören die vielen Ansätze, die ein einheitliches Bild verhindern. Das Publikum folgte konzentriert und spendete sehr freundlichen Premierenapplaus.



Fotos: Kerstin Schomburg

Arndt Voß
Aufgewachsen in Neumünster, in Lübeck seit 1959. Studium in Kiel und Hamburg (Musik- und Literaturwissenschaft). Ständige Mitarbeit an den Lübeckischen Blättern von 1974 bis 2014, Berichte und Kritiken darüber hinaus in einigen anderen Organen. Schwerpunktthemen: Musiktheater, Schauspiel, Konzerte.

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