Günter Grass war viermal in Indien, zuletzt 2005. Zunächst auf Einladung der indischen Regierung 1975 in Calcutta, später dann 1986 über ein halbes Jahr gemeinsam mit seiner Frau Ute. Indien hat Grass nie losgelassen und sich auch vielfältig in seinen Bücher und Zeichnungen niedergeschlagen.
Mit „Zunge zeigen“ hat er damals ein Buch geschrieben, dass von indischer Seite nicht besonders positiv aufgenommen wurde: zu düster, zu bitter, zu viel Elend. Diese Mischung aus Reisetagebuch, Zeichnungen und Gedichtzyklus steht im Mittelpunkt der aktuellen Ausstellung im Grass-Haus.
Eröffnet wurde diese Sonderschau jetzt durch eine voll besetzte Veranstaltung mit Diskussionsrunde im schönen Garten des Literatur-Hauses. Es begann mit Trommelschlägen des DJ Senny Chawla, der in die Klangwelten Indiens einführte. “Natürlich muss im Grass-Haus getrommelt werden“, begann Dr. Jörg-Philipp Thomsa, der Leiter des Hauses seine Einführung. Gemeinsam mit dem Museumsleiter der Völkerkunde Dr. Lars Frühsorge begrüßte er die bekannten Gäste der Vernissage: die Journalistin Shakuntala Banerjee, Leiterin des ZDF-Hauptstadtstudios, und Walter Lindner, ehemaliger Botschafter der Bundesrepublik in Indien. Zuvor hatte bereits Prof. Dr. Hans Wißkirchen, der leitende Direktor der Lübecker Museen die gelungene Zusammenarbeit von Ethnologie und Literatur, von Völkerkunde und Grass-Haus gewürdigt.
Nach persönlichen kleinen Anekdoten der geladenen Gäste, wie von Frau Banerjee, die verwandtschaftliche Verhältnisse nach West-Bengalen besitzt, häufig dort auf Verwandten-Besuch war, aber kein Hindi spricht, also auch irgendwie fremd in Indien sei. Der Ex-Botschafter Lindner erzählte aus seiner Frühzeit als Hippie-Reisender mit dem Magic-Bus nach Indien, wodurch er das Land lieben lernte. Später ging er in den diplomatischen Dienst und wurde Botschafter unter anderem in Kenia, Südafrika und eben seiner Lieblingsstation Indien. Ein Land der Widersprüche, des Chaos, der Verarmung, aber auch der Intensität von Gerüchen, Farben, Essen und kultureller Geschichte. Indien ist eine parlamentarische Demokratie mit 1,4 Milliarden Bewohnern, das Land mit der weltweit größten Bevölkerungszahl.
Er war infiziert von der Spiritualität, den Religionen und der allgemeinen Faszination des Landes. Genauso wie Günter Grass, aber dieser war überfordert von der schonungslosen Offenheit, dem Elend, dem allgegenwärtigen Tod, den dieser in Calcutta erlebte. Seine Reflexionen über seine Erfahrungen stießen dann auch auf viel Widerspruch im Land. Man warf ihm westliche Arroganz vor. Genauso zwiespältig wurde Mutter Teresa in Indien gesehen. Bei uns als Heilige verehrt, wurde sie in Indien eher gescholten. Ihre Ambivalenz der Wahrnehmung wurde kritisch gesehen, wenn sie zum Beispiel „die Armut als Kuss von Jesus Christus betrachtete“. „In Indien war die albanische Nonne, die selbst die Toten noch christianisieren wollte, eine Hassfigur“, erklärte Walter Lindner.
„Es hat halt jeder sein eigenes Indien-Bild“, betonte Thomsa, weshalb ein Spiegel auch das wichtigste Exponat der Ausstellung sei. Jeder hängt an seinen Klischees dieses Riesen-Landes, egal ob als Suchender, wie die Bhagwan-Anhänger oder als exotischer Sehnsuchtsort. Auch Günter Grass war fasziniert und wollte genau hin sehen. Er ging nicht mit der Kamera durch diese fremde Welt, sondern mit dem Skizzenblock. Er hielt sie fest, die Bettler auf der Straße, die Leichenverbrennungen, die Müllberge. Zu sehen in der Ausstellung.
Dazu gibt es Objekte aus dem Bestand der Völkerkundesammlung, wie die Figur einer Göttin, die Reisende wie der Maler Hermann Linde aus Indien heim nach Lübeck mitbrachten. Man kann wie im Bollywood-Film tanzen oder Zitate berühmter Indien-Reisender, wie Herrmann Hesse finden. Dazu gibt es ein Video, das der bekannte Fernsehen-Wissenschaftler Ranga Yogeshwar, Journalist mit indischen Wurzeln, aufgenommen hat. Darin erklärt er ähnlich wie andere, die Überforderung von Grass, den Schock, den fast jeder westlicher Reisende erlebt, wenn er das erste mal nach Indien reist. „Die Irritation über die Schönheit der Armut“ trifft fast jeden. Gerade deshalb ist das Ziel der Schau, nicht zu belehren, sondern Dinge in Frage zu stellen und Fragen aufzuwerfen in den Köpfen der Besucher, betont Jörg-Philipp Thomsa noch einmal eindringlich die Idee hinter der sehenswerten Ausstellung. Jeder möge sich sein eigenes Bild machen.
Die Sonderausstellung im Grass-Haus in der Glockengießerstraße 21 läuft bis zum 15.02.2023.