Unsere Lübecker Altstadtkirchen sind aus vielen Gründen berühmt: natürlich zunächst und vor allem deshalb, weil sie alle unglaublich schön sind, wohl auch, weil ihre Erbauer sehr ungewöhnliche Wege einschlugen, um statische und andere Probleme zu lösen, schließlich, weil die sieben Türme eine ganz einzigartige Silhouette bilden.
Auf welche Stadt sonst wird so oft ein Blick aus der Ferne geworfen? Auch wissen Architekturhistoriker, dass St. Marien das Vorbild war für unzählige große und kleine Kirchen im Ostseeraum. Und endlich erinnert sich mancher an einen großen Kunstskandal, der sich allerdings vor derart langer Zeit ereignet hat, dass die meisten von uns über ihn nachlesen müssen. Aber er hat mit unserem Thema zu tun, der strahlenden Weiße von Dom und St. Petri.
Der Kunstmaler Lothar Malskat spiegelte 1948 vor, in St. Marien gotische Fresken in schwindelnder Höhe entdeckt und freigelegt zu haben. In Wahrheit hatte er sie selbst gemalt – so wie er das bereits vor dem 2. Weltkrieg im Schleswiger Dom getan hatte. Und niemand hatte es bemerkt, sondern es bedurfte einer Selbstanzeige, um seine Fälschungen zu entlarven. 1952 kam es zu einem spektakulären Prozess vor dem Lübecker Landgericht, und bis heute wird es jeden verständigen Menschen ärgern, dass die Lübecker blöde genug waren, Malskats Malereien zu überpinseln. Das fachmännische Urteil des Landgerichts dürfte ihnen bei dieser Aktion geholfen haben: „Die Bilder sind mit einem sittlichen Makel behaftet und völlig wertlos.“ St. Marien kleidet sich längst wieder in warme Farben, die wesentlich zu der feierlichen Atmosphäre der Kirche beitragen. Man versuche jetzt einmal, sich die Kirche schnee- oder kalkweiß vorzustellen. Wäre das nicht schrecklich?
Man braucht gar nicht so viel Phantasie dafür, denn wir haben ja den Dom und St. Petri. In beiden vom Krieg ebenfalls zerstörten, später wieder aufgebauten Kirchen finden sich nur minimale Reste von Malerei, und sie präsentieren sich so ziemlich kalkweiß. Ertragen lässt sich das nur im Dom, weil sich ein schöner Kontrast zu den vielen barocken, das heißt meist schwarzgerahmten Denk- und Grabmälern ergibt. Trotzdem sollte auch hier eine erneute Bemalung ins Auge gefasst werden.
Anders als der Dom ist St. Petri fast leergeräumt und dient verschiedenen Veranstaltungen, als wäre diese Kirche ein beliebiger Schuppen ohne eigene Aussage. Man kann in ihr Vorträgen lauschen oder Konzerte besuchen, und mehrmals im Jahr wird ihr Innenraum mit Sachen vollgestellt, die sich bei näherem Hinsehen als künstlerische Installation entpuppen. Zuletzt gab es vom 30. Juli bis zum 27. August einen Double Act, also eine gemeinsame Ausstellung zweier Künstler, des Dänen Peter Land und des Deutschen Hans Petri. Bei der Eröffnung in heiter-aufgeräumter Atmosphäre waren St. Petri-Pastor Bernd Schwarze und Oliver Zybok von der Overbeck-Gesellschaft darum bemüht, die Arbeiten dieser Künstler in einen pädagogischen Kontext einzubetten, und erläuterten, man könne dank der Installation und in und mit ihr etwas über die Bedeutung von Bildern, aber auch über ihren Missbrauch lernen.
„Künstler wie Peter Land und Hans Petri“, formulierte Zybok auf einem Flyer, „beschäftigen sich ganz allgemein mit den Erwartungen, Enttäuschungen und Potenzialen zwischen privatem und öffentlichem Bild und zeigen neue Perspektiven der Verbindung von Kunst und Leben in einer mediendominierten Zeit auf.“
Hier möchte man schon ganz gern einige Fragezeichen setzen – zunächst nicht, um zu widersprechen, sondern weil sich der Sinn dieses Satzes nicht erschließt. Verständlich scheint erst die Fortsetzung, die den Leser mit der zweifellos überraschenden Tatsache konfrontiert, dass ein „Verstehen der Bilder […] nur durch die Aneignung eines Wissens um gesellschaftliche und geschichtliche Zusammenhänge möglich“ ist. Ein solches Verstehen, so lesen wir und fühlen uns auf unserem Bildungsweg weitergekommen, „geht weit über den raschen Bildkonsum hinaus – und braucht vor allem Zeit.“
So, Bilder besitzen also einen historischen und sozialen Kontext … Unterstellen die Künstler und die Organisatoren der Installation, dass deren Besucher das nicht wissen? Das durchschnittliche Alter des Publikums liegt wohl über der Pensionsgrenze, und die meisten werden sich höchstwahrscheinlich selbst als Bildungsbürger verstehen, aber man meint, ihnen Klippschulweisheiten einträufeln zu dürfen. Und das Publikum lauscht auch noch ergriffen.
Derartige Beschulungen begegnen uns in einer einstmals bilderlastigen, heute aber radikal entbilderten Kirche; und eventuell können sie auch gar nicht woanders auftreten. Denn ist nicht die fahle Kahlheit der Kirche Voraussetzung derartiger Veranstaltungen? Könnte man Installationen im Stile eines Herrn Thomas Zipp – er hatte im Februar unter dem Titel White Rabbit (Martin Luther) Gestrüpp, Müll und irgendwelche Raketenköpfe in der Kirche verteilt – in St. Marien oder St. Aegidien aufbauen? Die Frage zu stellen, heißt sie zu beantworten.
Worin unterscheidet sich die europäische Kultur von anderen Kulturkreisen, zum Beispiel von dem arabischen oder dem jüdischen? Doch nicht zuletzt durch die eminent bedeutende Rolle, die das Bild in ihr spielt – selbst im Protestantismus. Ja selbst das Denken von Atheisten wie dem Autor dieser Zeilen ist ganz und gar von christlichen Bildern durchtränkt, und es ist ganz gewiss nicht allein das Kreuz, obgleich das Kreuz als Ausdruck des Schmerzes und der Leiden wohl immer noch an erster Stelle steht. Neben dem Engel ist ein anderes eindrucksvolles, tief in uns allen verankertes Bild das einer um ihren Sohn trauernden Mutter, wie es auf vielen (Soldaten-)Friedhöfen zu finden ist. Oder man denke an den Gehörnten: Dessen Gesicht kennt ja wohl jeder, und seine Füße sowieso. Dazu kommt eine ganze Reihe der verschiedensten, früher allen, heute leider nur noch wenigen Europäern spontan verständlichen Symbole.
Es sind drei verschiedene Probleme, die hier auftauchen. Erstens die protestantische Bilderfeindlichkeit, die sich in dem Weiß der Wände von Dom und St. Petri ausdrückt und zunächst (vielleicht …) nur ein ästhetisches Problem darstellt; sodann die Drückebergerei vor etwas Neuem, wahrscheinlich, weil man sich selbst insgeheim schon längst die Impotenz und Hohlheit seiner eigenen Zeit oder auch seiner selbst eingestanden hat; und endlich die Abkehr von allem Christlichen – selbst (oder besonders?) bei den Vertretern der Kirche.
Zweifellos, der Protestantismus ist ein wortbasierter Glaube, der allein hilfsweise auf Bilder zurückgreift. Für Luther war Christi Reich „ein hör Reich, nicht ein sehe Reich“, wie es in seiner Schrift „Über Bilderbücher“ heißt. Der protestantische Vorwurf an den Katholizismus lautet, Götzendienst zu treiben. So wütete Andreas Karlstadt, Parteigänger und Stellvertreter Luthers in Wittenberg, gegen die Bilder in Kirchen: „Das geschnitzte und gemahlte Olgotzen uf den altarien stehnd ist noch schadelicher und Teufelischer.“ Sprachs und ließ die Bilderstürmer in der Stadtkirche ihr Unwesen treiben, bis alles zerschlagen und heruntergerissen war. Die Lübecker handelten besonnener, denn die – allemal katholischen – Retabeln wurden vor Zerstörung bewahrt und stehen heute im St. Annen-Museum. Einige von ihnen zählen zu den ersten Kunstwerken dieser Stadt.
Handelte die Lübecker Gemeinde im Sinne Karlstadts und der Bilderstürmer, als sie beschloss, dass St. Petri so kahl und leer bleiben sollte, wie sie es nach dem Wiederaufbau war und noch heute ist? Ein ganz und gar weißer Raum wäre für uns unerträglich: Wir wären in ihm schneeblind! Leider hat man sich mit Hilfe weißer aufgespannter Tücher diesem Ideal einer weißen Hölle schon ziemlich weit angenähert, und St. Petri wie auch der Chor des Doms sind längst Ausdruck eines koloristischen Nihilismus. Ihr Weiß widerlegt die Behauptung, dass es „um gesellschaftliche und geschichtliche Zusammenhänge“ geht, denn es blendet ja mit seiner Negation der Farbe und aller Bilder eben diese Zusammenhänge aus.
St. Petri ist nur fast ganz weiß, nicht wirklich ganz und gar, denn es gibt einige Natur- und Backsteine, und auch finden sich noch Reste der ursprünglichen Bemalung, so dass man, wenn man nur wollte, die Kirche wieder in ihren ursprünglichen Zustand versetzen könnte. Warum tut man das nicht? Weil es nur die entsprechenden Farben, aber nicht die originalen Farbpartikel wären, die das museale Denken unserer Zeit verlangt? Immerhin käme der Gesamteindruck doch dem des ursprünglichen Kirchenbaus nahe.
Natürlich könnte man sich auch für eine andere Farbgebung entscheiden, die sich vom Original absetzt; oh!, man könnte sogar ins Auge fassen, andere Ornamente zu nehmen oder, noch besser, zu entwerfen, Motive, die unserer Gegenwart entnommen und mit unseren Erfahrungen verbunden sind. Ist ein selbstständiges bildliches Denken eigentlich verboten? Frühere Epochen haben das doch auch getan; seit der Gotik, in der St. Petri entstanden ist, hat jede Kunstepoche ihre Spuren hinterlassen, und zwar in ausnahmslos allen Altstadtkirchen – es sind unter anderem diese Spuren, die sie so lebendig und interessant machen. Wir finden Renaissance, Barock, Rokoko, Klassizismus, Biedermaier und so weiter, und wir sind zwar nicht über jede Spur glücklich, aber wir akzeptieren sie.
Wenn man die Grate der Pfeiler und Gewölbe von St. Petri so schmücken würde, wie man das früher getan hat, erhielte der Raum sofort eine gewisse Kontur, und seine Strukturen wären wieder zu erkennen. Damit wären wir zwar immer noch auf der Ebene des Ästhetischen, denn dieser Schmuck wäre ja bloß ornamental, aber selbst bei einer zurückhaltenden Farbgebung kehrte die Schönheit in diese Kirche zurück. Das wäre immerhin ein Anfang.
Man braucht doch nur den Kapitelsaal im Burgkloster zu besuchen, um die überwältigende Wirkung eines gotischen Raumes mit seinen geschmückten Gewölben zu erfahren. Es ist etwas ganz Wunderbares. Warum darauf verzichten? Heute hängen in St. Petri Tücher von der Decke – selbstredend weiße. Vielleicht hängen sie dort und in dem riesigen Chor des Doms, um die Akustik zu verbessern, aber man könnte das ja auch mit farbigen Tüchern erreichen. Mit blauen zum Beispiel. Und wer das nun völlig absurd findet, der sollte einmal Hans Sedlmayrs klassische Untersuchung „Die Entstehung der Kathedrale“ studieren, in der man einiges über Symbolisierungen des Himmels findet.
Was ist mit den riesigen Flächen der nackten Wände? Auch an ihnen wünscht man sich nicht allein Farbe, sondern wirkliche Bilder – vielleicht Ölgemälde, vielleicht Fresken. Nur scheint es leider so, dass die Zeit des gegenständlichen Tafelbildes seit langem vorbei ist; und spätestens seit dem 2. Weltkrieg gibt es kaum noch Künstler, ganz wenige, die es versuchen, noch weniger, denen es gelingt, Menschen in ihrem Leiden, in ihrer Kreatürlichkeit, in ihren Hoffnungen wie Ängsten vor uns hinzustellen. Aber eben darum sollte es gehen – und in einer Kirche sowieso. Es geht nicht um Farben, es geht um Sinn und Bedeutung mit Blick auf den Menschen. „Das“, schreibt Georg Wilhelm Friedrich Hegel, „was zu jedem Kunstwerk gehört, gehört auch zur Malerei: die Anschauung, was überhaupt am Menschen, am menschlichen Geist und Charakter, was der Mensch und was dieser Mensch ist.“
In den Bürgernachrichten 118, vor wenigen Wochen erst erschienen, findet sich ein Artikel von Manfred Finke über ein ähnliches Thema – über die Farbe der Katharinenkirche. Sarkastisch spricht er „eine momentane Lehre“ an, „derzufolge das großflächige Freilegen von Wandmalerei möglichst zu vermeiden“ sei. Auch seine Wortschöpfung „Rück-Weißung“ könnte ich mit Blick auf St. Petri übernehmen.
Auf die Katharinenkirche wollte ich ohnehin zu sprechen kommen, allerdings in einem etwas anderen Zusammenhang. In der Weimarer Republik wurde eine ähnliche Diskussion geführt, als sich der legendäre Museumsdirektor Carl Georg Heise (1890–1979) gegen breiten Widerstand dafür einsetzte, die bis dahin gänzlich schmucklose Fassade von St. Katharinen mit Skulpturen zu besetzen, die eben das darstellen, was ich oben angesprochen habe: Sie stellen Menschen in ihrem Leiden und in ihrer Kreatürlichkeit dar. Bereits die Titel der Plastiken machen das deutlich: Frau im Wind, Schmerzensmann, Bettler.
Ernst Barlach zeichnete 1929 eine Skizze, die deutlich macht, wie er sich die Fassade von St. Katharinen mit seinen Figuren vorstellte und die man in diesen Tagen im Behnhaus bewundern kann. Barlach selbst konnte nur drei Figuren fertigstellen; weitere sechs stammen von Gerhard Marcks und wurden erst nach dem Krieg aufgestellt. Für uns ist es wesentlich, dass sich zwei große Künstler fanden, die zeitgemäße Arbeiten für einen gotischen Sakralbau schufen. Etwas Entsprechendes sollte auch für St. Petri oder für den Chor des Doms angestrebt werden, etwas, dessen Gestaltung an die alten Steinsarkophage und das memento mori anschließt, zum Beispiel. Bei deren Anblick überläuft es einen kalt.
Im Spätsommer 2014 gab es im Ostchor des Lübecker Doms eine Ausstellung mit den Arbeiten des Schmiedes Manfred Heller, der etwas archaische Abbilder des Leidens und der Qual schuf, die an die Formensprache der Kirche anschlossen und doch ganz eigen waren. Alle schmiedeeisernen Körper waren fragmentarisch und auch damit Ausdruck der Vanitas – die Oberfläche des Leibes oder des Kopfes war durchbrochen, oder es fehlten Teile der Gliedmaßen. Und überall zeigte das Metall die Spuren seiner Bearbeitung durch den Hammer – auch das stärkte die Ausdruckskraft der verschiedenen Objekte. Die Köpfe sahen aus wie Totenschädel. So konnte man sagen, dass der Künstler barocke Motive in die Formensprache unserer Zeit übertragen hatte. Eine sehr eindrucksvolle, sehr ernsthafte Ausstellung.
Schlimm dagegen die Installation von Thomas Zipp, die mit einem Marsch vom Pavillon der Overbeck-Gesellschaft zu St. Petri begann, eine Persiflage auf religiöse Prozessionen, eine ziemlich alberne Veranstaltung, eifrig beklatscht von jungen Leuten (Zipps Studenten, pardon, Studierenden?), die anerkennend vom Coup eines Menschen sprachen, den sie den „Heiligen Thomas“ nannten. Und das alles von der Kirche organisiert? Wohlgefällig schritt der Pastor voran?
Diese Installation, die mit ihrem unregelmäßig verteilten Kram vorspiegelte, sie wolle der Reformation und Luthers Thesenanschlag gedenken, war peinlich und überhaupt gänzlich inakzeptabel. Ich jedenfalls musste an Bemerkungen Arnold Gehlens denken, der 1960 in seinen Zeit-Bildern über „die Neo-Dada-Kunst, die Müll- und Gerümpel-Ideologie“ schrieb – seine sarkastischen Kommentare standen mir vor Augen, als ich mir diese Sachen anschaute, die weder mit der gotischen Kirche noch mit Martin Luther auch nur das Geringste zu tun hatten.
Wenn ich es mir recht überlege, finde ich es prinzipiell unverschämt, einen Haufen Zeugs abzuladen und es dann dem Zufallsgenerator im Kopf des Betrachters zu überlassen, einen roten Faden oder einen Gedanken oder vielleicht gar ein richtiges Konzept zu finden oder sich auszudenken. Derartige Installationen sind ein Appell an die willkürliche und ganz und gar beliebige Assoziationsfähigkeit des Menschen, nicht an seinen Verstand, und ich bewunderte die höfliche Lüge eines Besuchers, der, um einen Kommentar gebeten, erklärte, er müsse sich „erst einmal hineindenken“.
Ein Kopf, der seine Ratlosigkeit in Worte zu kleiden wusste und wohl ahnte, dass das Hineindenken bei der gänzlichen Abwesenheit von Gedanken aller Art nicht zielführend sein kann. Die Banalität von Installationen ist meist geradezu atemberaubend, und für die Installation des Herrn Zipp galt das nun ganz bestimmt.
Wie auch immer man derartige künstlerische Aktivitäten bewerten mag, eine Kirche ist keinesfalls eine Schachtel, die Ausstellungsflächen zur Verfügung stellt, niemals ein neutraler Ort, eine Bühne, die mal dieser bespielt, mal jener, sondern ein heiliger Ort. Also immer noch eine Kirche. „At least a church“, sprach Peter Land am 30. Juli, als Double Act eröffnet wurde, das Selbstverständliche aus. Und: St. Petri ist kein Monument, an dem etwas zu verändern strikt verboten ist, sondern ein Gebäude, das nur dann zum Leben erwacht, wenn man es als einen Teil unserer Gegenwart ansieht. Man muss also beides tun: Man muss St. Petri als einem mittelalterlichen Ort der Religiösität seinen Respekt zollen, aber man muss sie in unsere Zeit holen und darf deshalb nicht einfach das tun, was Lothar Malskat getan hat. Nein, man soll nicht malen wie ein gotischer Meister – selbst dann nicht, wenn man es kann.
Im Kölner Dom hat Gerhard Richter, vielleicht der prominenteste deutsche Maler unserer Zeit, ein Fenster gestalten dürfen, und das Ergebnis wurde von einigen scharf kritisiert, von anderen bejubelt. Ganz hübsch scheint ja der Lichteinfall zu sein, das Spiel des bunten Lichtes auf dem Steinboden der Kathedrale, aber die Kritiker monieren, dass Richter nicht figurativ gearbeitet hat, sondern abstrakt. Also überhaupt keine Motive, keine Menschen, keine Symbole, und schon gar nichts aus der Bibel. Das Fenster zeigt nichts als eine Reihe geometrischer Figuren, Rechtecke und Kreise, deren Farbzusammenstellung sich zwar an den mittelalterlichen Farben orientiert, aber von einem Zufallsgenerator verantwortet wurde. Bedeutet so ein Gerät nicht die Absage an jede Bedeutung und damit den Abschied vom Dom als einem religiösen Ort? Obwohl das Fenster schöne Farbenspiele auf dem Fußboden produziert, kann ich die Kritik an ihm nachvollziehen, denn es ist bestenfalls Ästhetik. Was könnte mehr den Kontrapunkt zu der gedanklichen Arbeit eines Künstlers, seinen Absichten, seinen Zielen, seinen Neigungen und Träumen, darstellen als der Zufallsgenerator, auf den Richter zurückgriff?
Und: Wann ist eine Religion am Ende angelangt? Doch spätestens, wenn sie nicht mehr sich selbst gestalten kann, wenn sie kein Bild ihrer selbst mehr besitzt. Der Protest des Kardinals erfolgte also zu Recht. Schließlich kann man eine Reihe von teils bedeutenden Künstlern nennen, den großen Chagall an der Spitze, die figurative Kirchenfenster ohne Zufallsgenerator gestaltet haben.
Richter setzte auf die Farbe und auf sonst nichts, aber es ist Farbe ohne jeden formalen und inhaltlichen Kontext. In der mittelalterlichen Kunst – und dazu zählt eine gotische Kirche mitsamt ihrem Interieur – besitzen Farben eine Bedeutung. Man kann nicht einfach nur den Farbton nehmen und meinen, damit sei es getan, jetzt setze man eine mittelalterliche Tradition fort. Im St. Annen-Museum scheint das Alice Teichert gedacht zu haben, als sie ihre Ausstellung „Zwischen den Zeilen“ plante. Aber obwohl sie ja noch andere Aspekte der mittelalterlichen Bilder übernommen hat, zum Beispiel die Aufteilung der Seiten, als handle es sich bei ihrem Gemälde um die Abbildung eines aufgeschlagenen Buches, hat sie nicht wirklich die mittelalterliche Thematik fortgeführt. Einfach nur Blau und Rot und Grün zu nehmen, reicht einfach nicht, es gehört schon etwas mehr dazu als allein die Farbgebung. Leider musste man sagen, dass keine ihrer Arbeiten, wirklich keine einzige, die Tradition der alten Kunst fortsetzte. Deshalb hingen ihre sehr großen Gemälde auch in der Kunsthalle, also in dem Betonteil mit dem Flair einer Tiefgarage, nicht im alten Kloster, wo sie sich weder mit den Altären noch mit der wunderbaren Architektur und dem filigranen Rhythmus ihrer Gewölbe und Gänge vertragen hätten.
Fotonachweise:
Richter-Fenster, Wikipedia (c) Raimond Spekking
Richter-Fenster, Detail, Wikipedia/ Geolina 163
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