Aufruf zum Türkenkrieg: Wir schreiben das Jahr 1464. Mitte Februar – wer es genauer wissen will, der findet auch den Tag in den Wissensspeichern dieser Stadt verzeichnet – erreicht ein päpstlicher Gesandter die Stadt an der Trave, sein Name: Hieronymus, Erzbischof von Kreta.
Er lädt Rat, Bürger und Klerus in den Dom. Papst Pius II. habe im November 1463 zum Krieg gegen die Türken aufgerufen, teilt der Gesandte den Versammelten mit. Als Treffpunkt für alle, die mitziehen wollten, sei Ancona in Italien bestimmt, als Termin ist Anfang Juni gesetzt. Wer sich beteiligen würde, dem werde der umfassende Ablass gewährt werden, das heißt die Vergebung aller gegenwärtigen und zukünftigen Sünden.
Hitzige Debatte im Dom
Im Dom kommt es zu einer hitzigen Debatte. Zu gut erinnert man sich noch an einen Ablasshändler, der erst kürzlich im Norden im großen Stil – in die eigene Tasche wirtschaftete. Aber der Ruf dieses Papstes wirkt mächtiger als die Stimme der Warnenden. Pius II. ist nicht irgendein höherer Gottesbeamter, sondern eine der wirkungsmächtigsten Persönlichkeiten des 15. Jahrhunderts. Zwei Jahre nach dem Fall von Konstantinopel 1453 hat der Mann, den die gebildete Welt als Enea Silvio Piccolomini kennt, auf dem Reichstag in Frankfurt eine Rede gehalten, „Europa“ müsse zusammenstehen gegen „Asien“, Mehmud II., „Kaiser der Türken“, sei der leibhaftige „Antichrist“.
Papst Pius II.
Piccolomini, Humanist, Verfasser populärer Erzählungen, die das einfache Leben auf dem Lande preisen, wird diesen Gedanken in den kommenden Jahren in zwei umfänglichen Schriften ausarbeiten. Auf seiner großen Deutschlandreise, deren Eindrücke er in dem Buch Germania festhält, besucht er 1457 auch Lübeck. Seine literarischen Texte, die ländlichen Idyllen, sein Lobpreis freier Liebe und seine scharfe Kritik am Papsttum werden von den Verfassern der Fassnachtspiele in den Jahrzehnten bis zur Reformation 1530 wiederholt aufgegriffen. 1458 wird Enea Silvio Piccolomini zum Papst gewählt.
Ein Deal zwischen Rat und Klerus
In der Lübecker Versammlung im Februar 1464 überwiegen die Stimmen, die zum Aufbruch nach Ancona drängen: Krieg. Besorgte Stimmen wollen wissen, was mit denen ist, die nicht aufbrechen können, es aber gern tun würden? Noch am selben Tag wird ein Vertrag zwischen Rat und Bischof ausgehandelt und fixiert: Wer nicht in den Türkenkrieg zieht, gibt Geld in eine Kiste. Diese wird im Dom aufgestellt, das Geld soll verwendet werden zum Bau von Wällen und Toren. Und auch diejenigen, die stiften und spenden, gelangen in den vollen Genuss des sogenannten Plenarablasses, Vergebung aller vergangenen und zukünftigen Sünden. (Die erhaltene Urkunde stammt aus dem Jahre 1466 und wurde von Bischof Albert Krummendiek unterzeichnet.)
Konstantinopel und die Folgen
Johan Broling, einer der Altgedienten im Kreis der Ratsherren, weiß sich dem Lebensende nahe. Noch im Dezember 1463 als „Testamentszeuge“ mehrfach zu Freunden und Bekannten gerufen, stirbt er am 17. April 1464. (Die Ratschronik von E. F. Fehling überliefert ein falsches Datum.) Sein Testament wird öffentlich verlesen und kündigt Außerordentliches an: Der Ratsherr setzt eine hohe Summe auf den Bau eines neuen Holstentores aus.
In der Stadt beginnt eine lebhafte, kontroverse Diskussion, ob es sinnvoll sei, auf der Stadtseite, wo die Stadt als unbezwingbar gilt wegen der sumpfigen Flussniederungen auf der westlichen Traveseite, ein großes Tor zu errichten. Doch „Konstantinopel“ tat seine Wirkung. Die Suche nach den Ursachen für den Fall der Stadt war bereits in vollem Gang: Waren die neuen Geschütze der Türken verantwortlich, war es der überraschende Angriff von einer Seite, wo die Stadt sich als unbezwingbar wähnte, oder war es eine unverschlossene Tür, durch die die Angreifer eindringen konnten?
Ein Tor im Sumpf?
Seit mehr als 20 Jahren investierte Lübeck bereits in Verteidigungsbauten. Handlungsdruck lag auf der Erneuerung des Burgtores, also in Richtung Norden, wo die Stadt-„Insel“, wie wir sie seit 1900 kennen, auf einer Breite von mehreren hundert Metern mit dem „Festland“ verbunden war. Nach Abschluss der Arbeiten dort rückte man allmählich in Richtung Süden vor und erreichte um 1460 eine Linie von der Beckergrube im Westen (dort errichtete man den „blauen Turm“) bis zum Hüxtertor im Osten (dort entstand der „Absalonsturm“).
Es war bereits daran gedacht, die Arbeiten 1464 mit einer Erneuerung des bestehenden kleinen Holstentores auf der Westseite der Holstenbrücke fortzusetzen, und im Frühjahr waren Materialien in kleinem Umfang angekauft worden. Nach der Eröffnung des Broling-Testamentes geriet das Vorhaben nun ins Stocken. Zwei Jahre ruhte die Baustelle, dann begann mithilfe der Zusage für eine große Spende die gewaltige Torgründung im sumpfigen Westufer.
Wer war Johan Broling?
Johan Broling ist im heutigen Lübeck kein ganz Unbekannter. Nach ihm sind eine Straße und ein Platz in St. Lorenz-Nord benannt. Kenner der Stadtgeschichte wissen, dass auf ihn zwei Verse zurückgehen, die von Lübeck-Patrioten, wenn sie die „Königin der Hanse“ beschwören, gerne zitiert werden:
Lubeke, aller steden schone
Van riker eren draggestu de krone.
Der Ratsherr hatte zu Lebzeiten für die Zirkelgesellschaft eine eiserne Kuchenform anfertigen lassen und ihr zum Geschenk gemacht. An deren Rand waren der Spruch und in deren Mitte die Wappen von Ratsherren eingeprägt. Diese Kuchenform soll noch im 18. Jahrhundert in vornehmen Kreisen im Gebrauch gewesen sein, später ging sie verloren. Broling selbst gehörte der Zirkelgesellschaft an.
Der Ratsherr muss kurz vor seinem Tode sein Testament geändert haben, seine früheren Testate, die aus der Zeit stammten, als die einzige Tochter noch lebte, wurden mit dem neuen „Letzten Willen“ ungültig. Brolings Witwe und ihre Testamentsvollstrecker brauchten einige Jahre, die nicht ganz kleine Summe bereitzustellen. Aufgrund der Überlieferung bleibt unklar, ob die Summe bereits ab 1466 oder doch erst ab 1469/70 ausgegeben werden konnte.
Das neue Tor
Das Bauwerk, das zwischen 1466 und 1478 realisiert wurde, wich in mehrfacher Hinsicht von allem ab, was bis dahin in Lübeck an Festungsbauwerken errichtet worden war: vollkommen freistehend, doppeltürmig und reich ornamentiert. 1477, so melden die Chroniken, wurde der Bau „vollendet“. Gemeint ist wohl eine Art Richtfest, denn anschließend wurde noch ein Jahr weiter gearbeitet. Von vier Ratsherren, die bei dem Ereignis dabei waren, muss mindestens einer eine Rede gehalten haben. Der Chronist zitiert indirekt, ohne Namensnennung: Man habe diesen Bau nicht nur zur Abwehr gegenwärtiger Bedrohung errichtet, sondern auch für die Kinder, "de do noch weren ungeboren".
Aufbruch nach Ancona
Gegenwärtige Bedrohung? Niemandes Truppen waren 1477 im Anmarsch. Es war aber zwischenzeitlich seit 1464 Einiges geschehen. Von Lübeck waren viele Kampfbereite im Frühling aufgebrochen, um in der ersten Juniwoche in Ancona am Sammelplatz einzutreffen. Die Chronik spricht von 2.000 Bewaffneten. Auch aus anderen „Seestädten“ zogen Kampfbereite mit, im Ganzen sollen es 3.000 gewesen sein. Auch hatte man eine gut gefüllte Kriegskasse bei sich. Die Quelle spricht von 200.000 Mark. Hinter diese Zahl setzt jeder Kenner des damaligen Geldwertes ein sehr großes Fragezeichen.
Spott und Hohn
Als man in Ancona eintraf, war Papst Pius II. nicht am Ort, auch fehlten die von Venedig versprochenen Schiffe. Der Papst hatte den Zug abgeblasen. Er hatte mit seinem Aufruf zum Türkenkrieg im Spätherbst 1463 Kaiser und Könige erreichen wollen, nun waren Bürger und viele einfache Leute gekommen. Auch war Pius inzwischen lebensbedrohlich erkrankt. Er ließ sich von Rom nach Ancona bringen, erteilte den Zusammengekommenen den versprochenen Segen und Ablass, ermahnte sie zur Rückkehr und ist wohl noch in Ancona verstorben. Die Rückkehrer wurden landauf, landab verspottet, verhöhnt, ausgeraubt, totgeschlagen.
Diffuse Bedrohung
Doch das Bedrohungsgefühl hielt sich hartnäckig. Auch in Lübeck herrschte nach dem gescheiterten Türkenzug weiterhin das Bewusstsein, es müsse etwas getan werden. Noch vor der Fertigstellung des neuen Holstentores wurde begonnen, das Bauwerk mit einem westlich vorgelagerten Wall zu umgeben. Es kam zu Zwangsverpflichtungen. Täglich mussten, so berichtet ein Historiker, 120 Personen antreten, um bei der Aufschüttung der Wallanlagen Hand anzulegen. Wenige Jahre nach der Einweihung des Holstentores 1477 kam eine Delegation Hamburger Ratsherren und Fachleute, um den Bau zu besichtigen. Man nahm es zum Vorbild für das geplante Steintor in Hamburg. Dieses Bauwerk war Teil großer Fortifikationsanstrengungen auch in der Schwesterstadt − "Eodem tempore feccerunt Hamburgenses vallum civitates ad plagam orientalem".
Der Lübecker Chronist berichtet, in den folgenden Jahren nach der Einweihung des Tores sei der Bau an starken Befestigungsanlagen weiter vorangetrieben worden. Und er vermerkt auch, dass es Leute gab, die ihr Missfallen lautstark äußerten. Ihnen hielt er entgegen, beide Städte hätten besser daran getan, Tore und Wälle zu bauen als, sinngemäß formuliert, eine Tonne guten Goldes zu hüten.
Was wir bislang dachten zu wissen
Die Informationen der Lübecker Chroniken zu den Ereignissen von 1464 im Zusammenhang mit dem Türkenzug hat Wolf-Dieter Hauschild in seiner Kirchengeschichte Lübecks 1981 lebendig wiedergegeben. Die Informationen der Chroniken zum Bau des Holstentores wurden bei den Bauhistorikern Brehmer und Rahtgens nicht erwähnt. Johann Brolings Stellung im Zeitgeschehen, der zeitliche Zusammenfall seiner Stiftung mit dem Aufruf zum Kriegszug und dem Versprechen auf Ablass für diejenigen, die spenden, statt kämpfen, wurde bislang gar nicht bemerkt.
Das Holstentor, Machtgeste gegen Dänemark?
Unabhängig davon, was Differenzierungen am Befund zukünftig ergeben werden, ist zwingend festzuhalten, dass eine in den 1970er Jahren gegebene Interpretation der Gründe für den Torbau unhaltbar geworden ist. Jonas Geist hat in seinem Buch über das Holstentor den Hansehistoriker Philipp Dollinger ins Gespräch gebracht. Dieser hatte in einer Reflexion seiner Überblicksdarstellung die Bedeutung des Vertrages von Ripen 1460 angedeutet, hier kündige sich die Umarmung der freien Stadt Lübeck durch die erstarkende Territorialmacht Dänemark an.
Der Kunsthistoriker Johannes Habich formulierte bei seiner Eröffnungsrede der Ausstellung zu „500 Jahre Holstentor“ im St. Annen-Museum 1977 bündig, die „Anstrengungen“ Lübecks „waren auch eine Machtdemonstration der freien Reichsstadt an die Adresse des dänischen Königs Christian I., der durch den Vertrag von Ripen 1460 auch Herr über Schleswig und Holstein geworden war und damit in seiner Hand Macht auf eine für Lübeck bedrohliche Weise konzentrierte“.
Museumsdirektor Wulf Schadendorf folgte Habich ohne Prüfung der These an den historischen Quellen. In seinem schönen Buch über das Tor, dessen Stärke eine Typologie zeitgenössischer Vergleichsbauten ist, findet sich auch ein Abschnitt, der Habichs historische „Wahrheit“ ins Kunstphilosophische übersetzt: Die Lübecker hätten seit dem Vertrag von Ripen 1460 geahnt, dass ihr Stündlein als mächtige, unabhängige Stadt geschlagen habe. Der Torbau mit seinem reichen Zierwerk sei ein nostalgisch-wehmütiger Abgesang auf die verblassende eigene Macht, ein künstlerisch überlegener Gruß an die neue Macht Dänemark.
Wenige Jahre später hat Erich Hoffmann, der den Abschnitt zum Mittelalter in der Lübeckischen Geschichte verfasst hat, den Vertrag von Ripen im Hinblick auf seine zeitgenössische Bedeutung untersucht. Ohne Jonas Geist, Schadendorf und Habich namentlich zu nennen, wird deren Grundannahme ausführlich diskutiert und widerlegt. Für die politisch agierenden Zeitgenossen in Lübeck und Hamburg stellte der Vertrag keinerlei Bedrohung dar, sondern erbrachte etliche praktische und politische Vorteile. Und diese Vorteile wirkten für mindestens 20 Jahre. Es gab in diesem Zeitraum niemanden, der den Vertrag von Ripen als historische Zäsur wertete. Das behauptete Bedrohungspotential darin werde erst retrospektiv aus Erfahrungen des 18. und 19. Jahrhunderts wahrnehmbar.
Was wollte Johan Broling?
Um es kurz zu machen: Wenn man den Zeitgeist, genauer gesagt, den historischen Kontext für die Entstehung und Gestaltung des Holstentores ins Feld führt, dann kommt diesem Vertrag als Ereignis keine Bedeutung zu. Für die Zeitgenossen gab es ein Bedrohungsszenario, das Kontroversen auslöste: Die Folgen der Eroberung von Konstantinopel, die Gefährdung „Europas“ durch „den“ „Türken“, den „Antichristen“. Jene diffuse Bedrohungslage, die allgemein im Norden wahrgenommen wurde, zeitigte in der Stadt an der Trave eine besondere Hinterlassenschaft: Das gewaltige Tor, für dessen erfolgreiche Gründung im Sumpfland die Technologie noch fehlte, ist das Produkt einer persönlichen Entscheidung, die von dem politischen Kopf Johan Broling vielleicht auch deshalb getroffen wurde, weil er ein Zeichen setzen wollte gegen die aufgekommene Unruhe in der Stadtbevölkerung.
Literatur
Die Chroniken der niedersächsischen Städte: Lübeck, 5 Bände, 5. Band, 1. Teil, Leipzig 1911
Hauschild, Wolf-Dieter, Kirchengeschichte Lübecks. Christentum und Bürgertum in neun Jahrhunderten. Lübeck, 1981, Seite 145-146
Schadendorf, Wulf, Das Holstentor. Symbol der Stadt. Gestalt, Geschichte und Herkunft des Lübecker Tores. Lübeck und Hamburg 1977
Habich, Johannes, 500 Jahre Holstentor, in: Lübeckische Blättter Nr. 14, 9. Juli 1977, Seite 165-169.
Geist, Jonas, Versuch, das Holstentor zu Lübeck im Geiste etwas anzuheben. Zur Natur des Bürgertums. Berlin 1976
Lübeckische Geschichte, hrsg. von A. Graßmann, Lübeck, 4. Auflage, 2008, Seite 272-275.
Dünnebeil, Sonja, Die Lübecker Zirkelgesellschaft, Lübeck 1996
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