Mit Oma durch Lübeck

Im Alter muss ich oft an meine Großmutter denken.
Weilte ich bei ihr, nahm sie mich gern mit in die Stadt.
Dann versuchte sie dabei stets mein Interesse auf Lübeck zu lenken.
Ihre erste Frage war, wie viel Türme Lübeck wohl hat.
 
Mit 95 Jahren endete Omas Leben.
Sie war nicht krank als sie starb, sie stürzte und schlief friedlich ein.
Würden mir noch fünf Jahre zu meinem Leben gegeben,
könnte ich auch bald so alt wie meine Oma sein.
 
Ich erinnere noch den Stadtgang vom ersten Mal.
Oma wollte ihre beste Freundin besuchen.
Sie lebte seit kurzem im Heiligen Geist Hospital
und wollte ihr bringen selbstgebackenen Kuchen.
 
Wir betraten einen durch bunte Fenster erstrahlten Saal.
Dahinter befanden sich lange Gänge mit winzigen Räumen.
So stellte ich mir ein Gefängnis vor - trist und kahl.
Davon werde ich bestimmt heute Nacht träumen.
 
Über unseren Besuch hat sich die Freundin sehr gefreut.
Sie sagte, zu Hause sei sie stets hilflos und allein.
Hier würde sie versorgt und von Ärzten betreut,
und ist es warm, säße sie vor der Tür im Sonnenschein.
 
Beim Heimweg zeigte Oma mir einen Pegelstand.
1872 stieg bei starkem Nordostwind das Wasser in die Stadt.
Wie hoch es kam, steht in der Holstenstraße an einer Wand.
"Morgen will ich Dir zeigen, wo es mich überrascht hat."
 
Dann standen wir im Rademacher-Gang an der Hartengrube.
Oma und Familie bewohnten dort ein Haus.
Als das Wasser kam, war sie noch allein in der Stube.
Ein Mann trug sie noch zeitig aus dem niedrigen Tor heraus.
 
Freunde nahmen ihre Familie bei sich auf.
Es war ein Hochwasser wie nicht mehr seit vielen Jahren.
Der Nordostwind trieb das Wasser immer höher die Gruben hinauf.
Man sah sogar Bote durch die Gassen fahren.
 
Als wir den Domplatz erreichten, gab es viel zu schauen.
Wir erblickten einen Löwen, der auf einem Sockel stand.
Heinrich dem Löwen zu Ehren, er ließ 1173 den Dom erbauen.
Der Start war im romanischen Stil, im Gotischen er sein Ende fand.
 
Im Dom sahen wir Notkes Triumphkreuz inmitten aller Pracht.
Bis aufs Kreuz wurde fast alles zerstört 1942 in der Bombennacht.
Einst sah man verfolgte Diebe durchs Fegefeuer entweichen.
um im Domparadies Gnade für ihre Tat zu erreichen.
 
Draussen entdeckten wir eine Mühle mit einem Wasserfall.
Betrieben wird sie mit Wakenitzwasser aus dem Mühlenteich.
Das Wasser von dort fließt durch einen Dükerkanal.
Seit 500 Jahren war dieser Ort schon an fünf Mühlen reich.
 
Die letzte Mühle soll hier erst seit 250 Jahren stehen.
Später oben vom Wall sahen wir, wo wir heut gewesen.
Ich sagte, für mich war alles wie im Märchen so schön.
Oma meinte: "Schreibe alles auf, Du kannst ja schreiben und lesen."
 
In Sankt Marien standen wir vor der astronomischen Uhr.
Punkt 12 traten acht Männer heraus und grüßten den Heiland.
Es waren nicht die Jünger sondern sieben Fürsten mit dem Kaiser nur.
Diese Uhr von 1665 war wertvoll und äußerst interessant.
 
Im Totentanz von 1463 entdeckte ich den Sensemann gleich.
Ein Bild von dem Lübecker Maler Notke zur Zeit der Pest.
Flöte spielend nahm sich der Tod Alt und Jung, Arm oder Reich.
Oma sprach: "Hab' keine Angst, Gesunde will er nicht zu seinem Fest."
 
Schon lief ich zur Orgel von 1517, auf der Bach einst spielte.
Er könnte der Nachfolger von Buxtehude sein,
aber nur mit seiner Tochter, die hässlich war und schielte.
Bach verließ Lübeck und ging zu seiner Liebsten heim.
 
Diese Schätze und noch mehr wurden zu Asche in einer Nacht.
Auch Oma erlebte den Angriff mit großem Entsetzen.
Lübeck verlor sehr viel seiner historischen Pracht.
Das Traurigste dabei waren aber die Toten und Verletzten.
 
In der Nähe von Sankt Marien die Markttwiete stand.
Oma kaufte dort noch Heringe aus der Tonne.
Ich bekam für fünf Pfennig eine Salzgurke in die Hand.
Die schmeckte besser als Salmis, es war eine Wonne.
 
Eigentlich hätte ich lieber alles in Plattdeutsch geschrieben,
denn Oma sprach stets Platt und ich Hochdeutsch mit ihr.
Leider ist davon in mir nicht mehr viel übrig geblieben.
Doch ein plattdeutsches Gedicht von Reuter kann ich noch auswendig von ihr.
 
Oma (*1858; †1953)
Erna König (*1923)

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