In diesem Jahr war das Dezember-Konzert des NDR weit entfernt von jedem Bezug zu Weihnachten. Das hätte zu dem Temperament des Dirigenten, der für dieses Konzert auf dem Pult stand, wohl auch wenig gepasst.
Denn Marek Janowski, zurzeit Chef der Dresdner Philharmoniker, war verpflichtet worden, der als kein einfacher Dirigent gilt, als Perfektionist und strenger Probenmeister. Das passt zudem zu den unter dem Titel „Kapellmeister mit Bodenhaftung“ jüngst erschienen Interviews über sein bewegtes Leben, die als eine Art Monografie über ihn zu seinem 85. Geburtstag veröffentlicht sind.
Etwas davon bestätigte auch der Eindruck bei seinem Auftritt in Lübeck (14.12.2024). Gleich Maurice Ravels (1875–1937) „Le Tombeau de Couperin“ ließ eine ungewohnte Strenge erkennen. Es ist zwar ein Werk mit einem ernsten Hintergrund, bei dem die einzelnen Sätze im Ersten Weltkrieg verstorbenen Kameraden gewidmet waren, dennoch hatte Ravel in ihnen eine Zeitreise unternommen. Denn die Formmuster von Prélude, Forlane, Menuet und Rigaudon suchte er im Barock, speziell bei François Couperin und dessen Cembalo-Kunst. Zunächst war das Werk auch als Klavier-Suite entstanden, bevor Ravel 1921 die oben genannten vier Sätze daraus orchestrierte.
Als ob die dem Orchester gegenüber „einsaitige“, eher reduzierte Cembalo-Klangfarbe Janowski Vorbild schien, klang das Geschehen im Konzert weniger bunt. Die impressionistisch vielfältigen Abtönungen hätten behutsamerer entfaltet und auch durch agogische Mittel verstärkt werden können. Zudem verwunderte das sehr gleichmäßige Metrum, das vor allem der synkopischen Forlane im zweiten Satz schadete. Sie wirkte nicht nur melancholisch, mehr eintönig. So richtig befriedigte erst trotz seines kurz ins Moll eingetrübten Zwischenteils der spritzige Charakter des finalen Rigaudons.
Eine Reise in eine andere Welt unternahm das Orchester dann mit dem Fünften Klavierkonzert von Camille Saint-Saëns, das den Beinamen das „Ägyptische“ trägt. Weitgehend unbekannt wird es vielen Besuchern gewesen sein. Wenn man allerdings den Klavierpart gehört hat, den der Pianist Jean-Yves Thibaudet (*1961) mit staunenswerter Leichtigkeit darbot, erkannte man, dass Saint-Saëns weit mehr zu bieten hat als die wenigen Werke, auf die er im deutschen Konzertleben reduziert ist. Aber gleichzeitig musste man erkennen, dass dieser komplexe und äußerste Geläufigkeit erfordernde Solistenpart wohl etliche Solisten abgeschreckt haben mochte, es einzustudieren.
Es ist insgesamt ein Werk, das die Reiselust des Komponisten erkennen lässt. Tatsächlich komponierte der viel und gern reisende Franzose Saint-Saëns das Werk nicht nur in Ägypten, er verarbeitete darin dort empfangene musikalische Eindrücke, auch die von Erinnerungen an Spanien oder die an fernöstliche Musik. Der Solist hatte dieses Stück oft schon eingespielt, in dem lyrische Abschnitte und artistisch perlende mit hochdramatischen wechseln. Es erforderte alle Bereiche des Klavierspiels perfekt auszuführen. Vor allem das Finale, das nach einer Aussage des Komponisten zu Beginn den Rhythmus eines stampfenden Nildampfers malt, begeisterte das Publikum und führte zu einer Zugabe.
Feinsinnig war für die Zuhörer Johannes Brahms „Intermezzo“ in A-Dur (op. 118 Nr. 2) gewählt worden. Nicht nur, dass Brahms und Saint-Saëns ihre Kompositionen nur in einem sehr kurzen Zeitabstand komponiert hatten, auch Brahms war ein Komponist, der gern und viel reiste. Mit diesem romantischen Beitrag, schon einmal als „Monolog am Klavier … in einsamer Abendstunde“ umschrieben, klang der erste Teil so besinnlich wie gehaltreich aus. Zugleich führte er unmittelbar zu einem Werk Robert Schumanns hin, des großen Förderers von Brahms, das nach der Pause erklang.
Die romantische Musik ist eines der großen Gebiete von Marek Janowski. Hatte man schon im ersten Teil bewundert, dass er beide Werke auswendig dirigierte, so überraschte auch bei der vierten Sinfonie Robert Schumanns wieder, dass er sie auswendig beherrschte. Nur solch ein intimes Kennen des Werks kann zu einer solch sensiblen, zugleich unaufgeregten Wiedergabe führen, zu einer Reise in eine unverstellt romantische Welt. Ohne große dirigentische Anstrengung entwickelte er den inneren Fluss der sehr konzentrierten Komposition, in der Schumann sich zwar äußerlich an den gewohnten viersätzigen Ablauf des Sinfonie-Musters hielt, dieses aber in einer durchgängigen Form präsentierte. Es war sein Versuch, den Strom der musikalischen Erfindung ohne störende Zäsuren fließen zu lassen.
Der lange und begeisterte Beifall war Dank für die großartige Leistung des Dirigenten und des ihm konzentriert folgenden Orchesters.
Fotos: Hildegard Przybyla