Eine Saison mit einer Sinfonie Nr. 1 zu eröffnen, hat etwas für sich. GMD Stefan Vladar ließ seine Lübecker Philharmoniker die des Komponisten Sergei Sergejewitsch Prokofjew spielen, dessen Œuvre insgesamt sieben veröffentlichte enthält. Diese erste trägt den Beinamen „Symphonie Classique“ und ist zugleich seine bekannteste und beliebteste. Ihr heiteres und kurzweiliges Wesen hat sie bekommen, weil der damals 26 Jahre alte Komponist sich in ihr dem Wesen der klassischen Musik nähern wollte, das er vor allem bei Joseph Haydn suchte und, wie zu hören ist, auch fand.
Vladar konnte sich somit einmal dem zweiten Großen der Ersten Wiener Schule nähern, aus der zumeist in seinen Konzerten Mozart dominiert. Der Umweg über Prokofjew lohnte sich also. Ihn ist man gewohnt, als russischen Komponisten zu bezeichnen, zumal er am Petersburger Konservatorium studierte. 1904 begann er dort seine vielfältige Ausbildung, da war er 14 Jahre alt. Sie machte ihn nicht nur zu einem großartigen Komponisten, auch zu solch einem Pianisten. Oft wird aus einer autobiografischen Skizze zitiert, dass er mit dieser Komposition die Dominanz des Klavierklangs in seiner Musik vermieden haben wollte. Er suchte den Effekt, dass die Orchesterfarben „reiner“ klingen sollten. Die Streicher bekamen, wie zu hören, ein wunderbar leichtes melodisches Gewebe, die Holzbläser, darunter besonders die Fagotte, markante und charaktervolle Partien und auch die Blechbläser und die Pauken auffallende Passagen. Spieltechnisch waren damit alle Musiker im Orchester herausgefordert zudem durch das in den Ecksätzen vom Dirigenten geforderte Tempo.
Erstaunlich frisch und präzise gelang dieser Auftakt im Montagskonzert, bei dem Stefan Vladar möglicherweise auf das verweisen wollte, dass die Musik Russlands großartig ist, dass dieser Komponist aber aus heutiger Sicht kein Russe ist, denn sein Geburtsort Sonziwka liegt in dem umkämpften Osten der Ukraine, seit sie sich 1991 unabhängig erklärte.
Die Vermutung liegt nahe, weil viele der Lübecker Konzerte in der letzten Saison Programme hatten, die als politische Statements zu hören waren. Auch des Schweizers Frank Martin „Sechs Monologe aus >Jedermann<“, das zweite Werk im Programm, darf man diesem Bestreben zuordnen. Es prägt musikalisch eine expressive Endzeitstimmung, die die düsteren Bläserakkorde und der trübe Paukenwirbel gleich zu Beginn erwecken und den die Texte von Hugo von Hofmannsthal verströmen. Sie beziehen sich auf einen alten englischen „Everyman“ und einen Text von Hans Sachs. Der gegenüber Prokofjew ein Jahr ältere Martin, an dessen Tod vor 50 Jahren in einigen Programmen gedacht wird, hat dieses Werk 1943–1944 in einer Fassung für Gesang und Klavier geschaffen. Nur wenige Jahre später hat er sie für Orchester instrumentiert. Als Sänger war der Bariton Bo Skovhus gekommen, ein Däne, dessen Gesangskunst sehr eindrucksvoll die quälende Stimmung einfing, die 1943 herrschte und leider jetzt wieder in der Luft liegt. Es war ein großer Kontrast zu dem Beginn, dennoch stark beeindruckend.
Nach der Pause folgten Modest Mussorgskys „Bilder einer Ausstellung“, bei denen wieder das Klavier mitspielte. 1874, jubiläumsträchtig vor 150 Jahren also. Mussorgsky hatte diese ursprüngliche Fassung nämlich für das Tasteninstrument nach den Bildern seines deutschstämmigen Freundes Viktor Hartmann geschaffen. Selten ist sie zu hören, dafür begeistert das Publikum immer wieder die farbenprächtige und großformatig scheinende Malerei in der kongenialen Orchesterfassung durch Maurice Ravel, fast 50 Jahre später entstanden. Sie verfehlte auch in diesem Konzert nicht ihre Wirkung, zumal sie dadurch eine große Geschlossenheit erhielt, dass die Introduktion und die Zwischenstücke, die „Promenaden“, nicht nur den Ausstellungsbesuch zu imitieren suchten. Vladar wollte mehr. Er versuchte, durch Tempo und Tonstärke bereits auf die Stimmung der folgenden Bilder einzugehen. So wirkte der „Gnom“ weniger grimmig als anderswo, die „Tuilerien“ mit den spielenden Kindern durch ein langsameres Tempo geruhsamer und auch der Disput zwischen „Samuel Goldenberg“ und „Schmuÿle“ versöhnlicher.
Der pompöse Schluss schließlich in „Das große Tor von Kiew“ bekam einen besinnlicheren Touch, als wolle der Dirigent in die durch russische Bomben gefährdete Hauptstadt der Ukraine zurückführen und das Tor vor ihnen schützen.