Roland Greutter (Violine), Daniel Müller-Schott (Violoncello), (c) Hildegard Przybyla

Das 6. Saisonkonzert der Elbphilharmoniker in Lübeck
Ein musikalisches Raritätenkabinett

Das sechste Konzert der NDR-Elbphilharmoniker (24. März 2023) hätte weit mehr Beachtung verdient.

Zum einen stand musikalisch unser skandinavischer Nachbar Finnland im Fokus mit gleich zwei Werken von Komponisten dieses Landes. Mit einem erst vor wenigen Jahren entstandenen von Esa-Pekka Salonen begann der Abend und eines von Jean Sibelius, der als der Nationalkomponist des östlichsten Landes Nordeuropas gilt, beschloss ihn. Von wem wäre zum anderen eine authentischere Interpretation dieser Werke zu erwarten als von einem Landsmann? Es war Jukka-Pekka Saraste, im finnischen Süden geboren und bekannt durch eine internationale Karriere. Aber auch das hätte neugierig machen können, dass Daniel Müller-Schott dabei war, ein sehr erfolgreicher Cellist. Obwohl sein Instrument so bedeutsam für den Orchesterklang ist, wird es doch als Soloinstrument von den Komponisten nicht entsprechend beachtet. An diesem Abend war das selten gespielte Konzert in d-Moll des Franzosen Édouard Lalo zu erleben, ein Werk von besonderer Eigenart und beträchtlichem Anspruch.

Esa-Pekka Salonen, der schon als Dirigent und als Komponist in Lübeck zu hören war, hat seinem 2019 als Kammermusik entstanden Werk den Titel „Fog“ gegeben, es also nach einem nicht nur in Finnland oft geheimnisvollen und verwirrenden Naturereignis benannt. Zwei Jahre später bearbeitete er es für großes Orchester, wie es hier zu hören war. Salonen wurde zu seiner Komposition durch den nordamerikanischen Architekten Frank Gehry inspiriert, dem er diese Komposition zum 90. Geburtstag widmete. Gehrys „dekonstruktivistisch“ genannte Architektur ist auch in Deutschland zu erleben, in Hannover oder Düsseldorf, in Bad Oeynhausen oder Frankfurt.

Die Tonfolge F-A-G-E-H aus den „klingenden“ Buchstaben seines Namens spielen thematisch eine Rolle, wichtiger noch ist ein Thema von Johann Sebastian Bach. Es stammt aus dessen Partita Nr. III für die Solovioline. Beide Gebilde treten oft schemenhaft und von vielen Klangfarben verändert auf, erscheinen schleierhaft, eben wie im Nebel. Das Bach-Thema zu verwenden, hatte einen biografischen Hintergrund. Salonens Konzertmeister bei dem Los Angeles Philharmonic Orchestra, deren Chef er damals war, hatte dem Architekten und ihm im Rohbau der Walt Disney Concert Hall zur ersten akustischen Probe eben diese Partita vorgespielt. Eine biografische Anekdote ist das, die im Programmheft zu lesen war. Sie wiederum ruft ein anderes Rohbau-Ereignis in Erinnerung, das die Lübecker Philharmoniker im nasskalten Januar 1994 veranstalteten. Zusammen mit Musikern des jetzigen Elbphilharmonie-Orchesters und Studierenden der Lübecker Musikhochschule nahmen die Musiker zwischen Mörtel und Baugestellen schon einmal in der MuK Platz, die erst im Oktober feierlich eröffnet werden sollte. Vielleicht hat auch der eine oder andere der Musiker wie auch der eine oder andere der Zuhörer sich an dieses Event erinnert.

Zu Salonens Klangereignis stand Édouard Lalo mit dem d-Moll-Konzert in einem großen Kontrast. Dieses frühromantische Werk hat wie gewohnt drei Sätze. Sie sind allerdings sehr eigenwillig geformt. Im ersten Satz fallen nach einem dynamischen Auftakt die harten Akkordschläge des Orchesters auf. Zwischen ihnen entfaltet der Solist ein angeregtes Thema, das neben einem zweiten, einem versonnen, allem einen opernhaften Eindruck gibt. Der zweite Satz verbindet quasi einen langsamen Teil mit einem im Gestus eines Scherzos, in den spanische Elemente eingeschoben sind. Solche impulsiven und tänzerischen Momente charakterisieren auch den dritten Satz.

(c) Hildegard Przybyla(c) Hildegard Przybyla

Als Solist bescherte Daniel Müller-Schott ein großes Erlebnis. Das Werk gibt ihm, der kaum einmal eine Pause hat, einige erstrangige Aufgaben, die ihn in allen Registern fordern. In der Höhe sind es die wirbelnden Partien, die mit erstaunlicher Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit erklangen, während die warmen und dunklen Farben der tiefen Lagen einen feinsinnigen Ausdruck voll nachdrücklicher Empfindung und Leidenschaft und mit packender tänzerischer Energie bekamen. Diese Stärke des Baritons unter den Streichern verstärkte sich durch die Bogenführung des Solisten und die ungewöhnlich schönen Timbres seines Cellos. Nur manchmal (besonders zu Beginn des ersten Satzes) machte sich der Unterschied des modernen straffen Orchesterklangs zu dem besonderen des Soloinstruments unangenehm bemerkbar, weil die Akkordschläge zu vehement waren.

Daniel Müller-Schott spielte ein Cello, das Matteo Goffriller 1727 in Venedig gefertigt hatte und das er von Harvey Shapiro bekommen hatte, einem bedeutenden Cellisten und Lehrer in New York. Der hatte es selbst 60 Jahre gespielt und es dem Jüngeren im Alter von 90 Jahren weitergegeben - Verpflichtung und Ehre für Müller-Schott. Noch einmal war der Klang des Instrumentes und die Fähigkeit des Solisten bei der Zugabe zu bewundern. Für sie hatte der Cellist zusammen mit Roland Greutter, seit 1982 erster Konzertmeister des Orchesters, eine Komposition des Schweden Johan Halvorsen (1864 – 1935) ausgesucht, eine hoch virtuose Passacaglia frei nach einem Händel-Thema. Es muss wohl als eine noble Geste des Solisten an das großartige Orchester zu werten sein, wenn er seinen Dank mit seinem Repräsentanten teilt.

Über den dritten Programmteil, der zweiten Sinfonie von Jean Sibelius, kann man kaum etwas Neues sagen. Sie gilt immer noch als das beliebteste Werk des bedeutenden Finnen. Belassen wir es dabei. Viele der Besucher werden sich wie der Rezensent fragen, wie man das Finnische besser erleben kann als durch seine Musik? Wenn dieses Werk dann von Jukka-Pekka Saraste, einem Landsmann, so überlegen und auf das Wesentliche konzentriert interpretiert wird, spürbar in enger Verbundenheit mit dem grandios aufspielenden und in allen Stimmen lebhaft reagierenden Orchester, so ist der Grund geschaffen für eine Wiedergabe, die trotz des hymnischen Finales befreit ist von allem hohlen Pathos, dagegen wunderbar farbig und von suggestiver Kraft. Der Beifall des Publikums wollte nicht enden.

Arndt Voß
Aufgewachsen in Neumünster, in Lübeck seit 1959. Studium in Kiel und Hamburg (Musik- und Literaturwissenschaft). Ständige Mitarbeit an den Lübeckischen Blättern von 1974 bis 2014, Berichte und Kritiken darüber hinaus in einigen anderen Organen. Schwerpunktthemen: Musiktheater, Schauspiel, Konzerte.

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